Arbeitslose sind gierig

Eine Kampagne von Politik und Medien erklärt, wer schuld ist an der deutschen Pleite: die Erwerbslosen mit ihrer angeblichen Abzockermenatlität. von winfried rust

Wolfgang Clement (SPD) ist ein Mann klarer Worte. In seinem Bericht »Vorrang für die Anständigen« stellt der scheidende Wirtschaftsminister Arbeitslose als »Abzocker« dar und rückt sie als »Parasiten« ungeniert in die Nähe von Ungeziefer. Die Stichworte auf den ersten Seiten des Berichts lauten: »Mitnahmementalität«, »Missbrauch«, »Melkkuh Sozialstaat«, »Selbstbedienung am Gemeinwohl«. Danach ergeht sich der Report in schmierigen Darstellungen von Wohnungskontrollen, bei denen Erwerbslose in Unterhemd und Unterhose vorgeführt werden. Eine empirische Basis für mögliche Schlussfolgerungen enthält er nicht.

Diese folgen dennoch: »Kontrolle ist gerecht«, »Kontrolle wirkt«, »Kontrolle wird strenger«, »Harte Strafen für die Abzocker« und »Maßnahmen der Bundesregierung« sind sie überschrieben. Längst durchsuchen die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen oder beauftragter Unternehmen die Privatwohnungen von Arbeitslosen oder machen Kontrollanrufe. Im Gegenzug mahnen Wohlfahrtsverbände und einige Presseleute, dass Abzocke bei Hartz IV nur ein schlechter Witz sein könne und die Art der Kampagne menschenverachtend sei. Dialektik 2005: Als Synthese verkündet die Große Koalition, dass der große Kassensturz ein großes Problem in Deutschland ergeben habe. 35 Milliarden Euro fehlen. CDU und SPD sind sich einig, dass durch die Bekämpfung von, nun ja, Missbrauch auch bei Hartz IV mehrere Milliarden Euro eingespart werden könnten.

Kostensteigerungen bis zwölf Milliarden Euro pro Jahr konstatiert Clement beim Arbeitslosengeld II. Das liegt jedoch eher an der Art seiner Prognosen und an veränderten Zuständigkeiten als daran, dass mehr Geld bei den Arbeitslosen ankäme. Floss vor der Einführung von Hartz IV mehr Geld in Form von Arbeitslosenhilfe, fließt heute mehr Wohngeld. »Wenn von Ausgabensteigerung die Rede ist, bezieht sich das nur auf die erhofften Einsparungen«, bilanziert Richard Hauser, Frankfurter Professor für Sozialpolitik, in der Süddeutschen Zeitung.

Dazu kommt ein anderer Effekt. »Es war nicht vorgesehen, dass die Träger einer verdeckten Armut hervorgekommen sind und Leistungen beantragt haben. Die verdeckte Armut wurde sichtbarer«, erklärt Harald Thomé von der Wuppertaler Erwerbsloseninitiative Tacheles. EmpfängerInnen des Arbeitslosengelds II erhalten in der Regel 345 beziehungsweise 331 Euro plus Wohngeld. Für den Spiegel sind »viele ALG-II-Bezieher so gut versorgt, dass der eigentliche Zweck des Gesetzes verfehlt wird«. Hier prallen Welten aufeinander. Harald Rein vom Frankfurter Arbeitslosenzentrum sagt: »Die soziale Realität, die wir in der Beratungsstelle erleben, ist das Gegenteil. Der Druck hat zugenommen.«

Die Hartz-Gesetze haben nicht gebracht, was sie bringen sollten: Arbeitsplätze und Einsparungen. Selten wurden in der Politik so hohe Kosten in Kauf genommen und ein solcher Aufwand betrieben, um einem Teil der Bevölkerung etwas Geld wegzunehmen. Die Reform war politisch und verwaltungstechnisch ein riesiger Aufwand, jetzt müssen Verantwortliche für das Desaster her. Wie geht es unter der Großen Koalition weiter, wenn »Parasiten-Clement« an »Heuschrecken-Münte« übergibt?

Franz Müntefering (SPD) spricht in einem anderen, beleidigten Tonfall. Im aktuellen Spiegel lässt er seinen Frust los: »Es ist immer auch eine Frage, mit wie viel Misstrauen man den Menschen begegnet. Jetzt haben wir unsere Erfahrungen gemacht. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen.« Das klingt nach einem »wehrhaften Sozialstaat«, nach »Fördern und Fordern«. Weil das Fördern noch weniger kosten soll, werden Solidargemeinschaft und Patriotismus beschworen. Ein paar Feindbilder haben dem Gemeinschaftsgefühl noch nie geschadet. Dafür eignen sich die »Abzocker« bestens.

Eigentlich ist Abzocke der Grundantrieb kapitalistischen Wirtschaftens. Ein begabter Abzocker agiert innerhalb der Ökonomie und nicht außerhalb, das ist unrentabel. »Abzocker« beim Arbeitslosengeld II – das taugt gerade als Zuschreibung für Sündenböcke. Es sieht danach aus, als würden sich SPD und CDU auf einen autoritären Sozialstaat einigen, der allen, die gesteigerte Demut und Betriebsamkeit demonstrieren, einen prekären Unterhalt gewährt.

Wie das auf dem Amt aussieht, beschreibt Harald Rein: »Die Vermittler müssen heutzutage etwas vorweisen. Reguläre Vermittlung der Arbeitslosen in Arbeitsplätze können sie nicht bieten. Was sie tun können, ist, die Arbeitslosen auf Trab zu halten. Ein-Euro-Jobs und Einladungen sind möglich. Die Arbeitslosen müssen Nachweise für irgendwelche Bewerbungen bringen, und die werden durchgecheckt. Sind sie dem Sachbearbeiter zu schlecht oder zu wenig, kann es eine Sperrzeit geben. Dann bekommt der Arbeitslose weniger oder kein Geld.«

Täglich machen sich neue Meinungsführer für die Überwachung und »die propagandistische Vorbereitung für weitere Leistungsabsenkungen« (Harald Thomé) stark. Der Ombudsrat für die Hartz-IV-Reformen empfiehlt eine stärkere Kontrolle von Empfängern des Arbeitslosengelds II. Der Vorsitzende des Ombudsrates, Hermann Rappe, findet, gegen Hausbesuche könne niemand etwas einwenden, denn »schließlich geht es um Steuergelder«. Leistungskürzungen seien ebenfalls empfehlenswert, wenn Jugendliche einer obligatorischen »Qualifizierungsmaßnahme« nicht nachkämen. Der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, fordert in der Sächsischen Zeitung ebenfalls, den »Leistungsmissbrauch« härter zu bekämpfen: »Wir brauchen eine Umkehr der Beweislast, wenn Paare zusammenleben.« Aber »es gibt zu wenig Kontrolleure«, klagt der Spiegel: »In Mannheim stehen 16 000 Haushalten vier Ermittler gegenüber.«

Das dürfte sich ändern. »Je mehr sich ein Gelingen der Umstrukturierung der Arbeitslosenverwaltung abzeichnet, umso mehr zeichnet sich auch ein Anstieg der Repression ab«, sagt Harald Thomé. Bei der jüngsten Telefonaktion der Bundesagentur zur Kontrolle von Arbeitslosengeld II-EmpfängerInnen wurden immerhin 480 000 Haushalte angerufen. Das fehlende Gespür dafür, dass es sich dabei um Eingriffe in die Privatsphäre handelt, zeigt die Arbeitslosen als Bürger zweiter Klasse. Die »Normalbürger« am lukrativeren Volkssport Steuerhinterziehung mit vergleichbaren Maßnahmen zu hindern, käme schlechter an.

Aber so weit will auch Wolfgang Clement nicht gehen. Seine Propaganda soll von den eigenen Fehleinschätzungen ablenken. Und ein lästiges Dauerproblem scheint ebenfalls gelöst: das Bedürfnis, die »Schuldigen« der Arbeitslosigkeit zu benennen. Und Propaganda ist Herzenssache. Auch in Clement brodelt, was die Bild-Zeitung angesichts der »üblen Tricks der Hartz-Schmarotzer« empfindet: »Es macht so wütend!«

Vielleicht ändert sich etwas, wenn die derzeit gezeichneten Hartz-Kreaturen sich ihrer Lage bewusst werden, als Objekte des Ressentiments und als Opfer. Beide Zuschreibungen bedeuten Knechtschaft. Harald Rein findet: »Es ist gut, wenn sich ein paar Schlupflöcher aufgetan haben. Das heißt, dass es kein perfektes Gesetz gibt. Auch Kontrollgesetze enthalten die Möglichkeit, diese Kontrollen zu umgehen. Der Versuch, dem Leben mit zu wenig Geld zu entgehen, ist kein Abzocken, sondern der Versuch, menschenwürdig zu leben.«