Kinderzimmer im Souterrain

In Rumänien lebt fast die Hälfte der Menschen unter der Armutsgrenze. Kinder müssen in Abwasserkanälen und Heizungsschächten vegetieren. von annette kaiser, constanza

Ein schmales Bett, auf dem ein roter Plüschteddy hockt, ein wackeliger Schreibtisch, ein Stuhl – mehr passt nicht in das kleine Zimmer. Gerade mal sechs Quadratmeter groß ist Sonjas Reich. Trotzdem fühlt sich die junge Rumänin in dem blitzblank geputzten Raum wie im siebten Himmel. »Das ist mein Zuhause«, sagt sie stolz.

Für Sonja ein ganz neues Gefühl. Denn es ist noch nicht lange her, dass die 16jährige in einem Kanalschacht unter der Erde lebte. Genauso wie tausende Mädchen und Jungen, die täglich in Rumänien ums Überleben kämpfen. Mittlerweile wohnt das rothaarige Mädchen mit den Sommersprossen im Jugendzentrum Don Bosco der Salesianer im rumänischen Constanza. Der katholische Orden betreut in der Hafenstadt am Schwarzen Meer, in der etwa 316 000 Menschen leben, Straßenkinder und Jugendliche aus Problemfamilien.

Die Hilfe der Ordensleute ist in Rumänien bitter nötig. Etwa 8 000 bis 10 000 Kinder übernachten in den Abwässerkanälen und unterirdischen Heizwerken der Städte. In Constanza wird ihre Zahl auf mehrere hundert geschätzt. Sie leben vom Betteln oder Stehlen, sind Freiwild für Diebe, Mörder, Zuhälter. Nicht alle sind Waisenkinder. »Viele haben noch Eltern. Aber die leben in winzigen, abbruchreifen Wohnungen, sind arbeitslos, gewalttätig oder Alkoholiker«, sagt Pater Sergio Bergamin, der Leiter des Jugendzentrums.

Schon zu realsozialistischen Zeiten galt Rumänien als Armenhaus. Und seit dem Zusammenbruch des Ceausescu-Regimes haben sich die sozialen Probleme nicht wesentlich verringert. Etwa 43 Prozent der Rumänen leben unter der Armutsgrenze, seit 1996 ist die Kaufkraft um die Hälfte gesunken. Zwar liegt die offizielle Arbeitslosenzahl nur knapp über sechs Prozent. »Aber viele sind nur saisonal, in der Schattenwirtschaft oder als Tagelöhner beschäftigt«, erläutert die Politologin Brigitte Mihok, die in Rumänien aufgewachsen ist. Die vielen Kinder auf den Straßen sind aber nicht nur Folgen von Armut und Alkoholmissbrauch. Auch rigide Zwangsräumungen und ein fehlendes soziales Netz zählen zu den Ursachen. »Wer arbeitslos wird, steht häufig ohne Absicherung da«, sagt Mihok. Denn die Sozialhilfe wird von den Kommunen ausgezahlt. »Und die sind meistens pleite.« Darüber hinaus haben viele keinen Anspruch auf Unterstützung, weil sie die notwendigen Dokumente nicht besitzen. Denn auch die kosten Gebühren – zu viel für manchen Arbeitslosen. »Wer die Miete nicht zahlen kann, landet auf der Straße«, sagt Mihok.

Zudem hat die orthodoxe Kirche, der 87 Prozent der Rumänen angehören, keine Tradition der sozialen Fürsorge. Suppenküchen oder Schlafstätten für Obdachlose existierten deshalb in Rumänien kaum. Wird sich die Situation durch den für das Jahr 2007 geplanten EU-Beitritt verbessern? »Ich denke schon«, sagt Bergamin zuversichtlich. »Dann wächst die Wirtschaft, und die Löhne steigen.« Allerdings hat die EU-Kommission vergangene Woche den Beitrittstermin erneut in Frage gestellt. Kritisiert wird vor allem die grassierende Korruption »insbesondere auf höchster Ebene«. Bergamin hofft, dass die Menschen durch den EU-Beitritt auch mit einer neuen Denkweise konfrontiert werden. »Momentan ist in Rumänien jeder nur das wert, was er produziert. Menschenwürde spielt hier kaum eine Rolle«, fasst er seine Beobachtungen der vergangenen Jahre zusammen.

Auch Sonja musste diese Erfahrung machen. Sie landete im Alter von acht Jahren auf der Straße. Weil nicht genug Geld da war, hatte sie der Freund ihrer Mutter zum Betteln geschickt. »Wenn ich nichts mitbrachte, prügelte er mich.« Sonja hielt es zu Hause nicht mehr aus, lief weg und schloss sich den Straßenkindern an. »Ich hatte große Angst. Überall gibt es rivalisierende Banden, die sich gegenseitig bekämpfen.« Von Zeit zu Zeit sprühten Polizisten Tränengas in die Kanäle, um die Kinder zu vertreiben. Sonja verfrachteten die Beamten in ein staatliches Kinderheim. »Aber die haben mich eingesperrt und verprügelt.« Sie lief weg, landete wieder auf der Straße. Bis Bergamin sie einlud, ins Jugendzentrum Don Bosco zu kommen. »Hier wird niemand geprügelt oder eingesperrt. Und die Regeln werden erklärt«, sagt das Mädchen begeistert.

Das Jugendzentrum liegt im Armenviertel am Stadtrand von Constanza. Die Priester sind vor allem präventiv tätig. »Bei uns können sich die Kinder austoben, bekommen Hilfe bei Problemen und eine berufliche Perspektive. So wollen wir verhindern, dass sie auf der Straße landen oder kriminell werden«, sagt Bergamin, dessen Orden in 132 Ländern tätig ist. 80 bis 100 Mädchen und Jungen tummeln sich täglich auf dem Sportplatz. Ein Großteil der kirchlichen Hilfsgelder, die das Projekt finanzieren, fließt in die Ausbildung der Jugendlichen. Elf ehemalige Straßenkinder gehen regelmäßig zur Schule. Und im hauseigenen Berufsbildungszentrum absolvieren etwa 100 Jugendliche pro Jahr EDV-Kurse. Sie werden zu Graphikern, Elektrikern oder Schneidern ausgebildet.

Sonja genießt den geregelten Tagesablauf. »Damals auf der Straße bin ich irgendwann aufgewacht und wusste nie, wie spät es war.« Derzeit geht sie vormittags zur Schule. Nachmittags macht sie eine Lehre als Schneiderin. Dafür bekommt sie sogar ein kleines Gehalt von umgerechnet 20 Euro im Monat. Mit dem Geld wollen die Salesianer die Kinder zum Durchhalten motivieren. Denn nach Jahren auf der Straße ist es für die meisten schwer, sich zu konzentrieren und Regeln einzuhalten.

Nicht alle schaffen den Absprung. Bergamin und seine Mitarbeiter besuchen deshalb die Kinder in den Kanallöchern, bringen ihnen Essen und Kleider. Und sie werben immer wieder für das Jugendzentrum. Erst dann bieten die Salesianer Unterricht an, zunächst stundenweise. »Wir respektieren den Wunsch der Kinder nach Unabhängigkeit«, erklärt Bergamin.

So wie den des kleinen Florin. Seit drei Jahren haust der Achtjährige in einem Heizungsschacht. »Meine Eltern sind arbeitslos und haben sich ständig gestritten. Das habe ich nicht ausgehalten.« Jetzt lebt er fünf Meter unter der Erde – in einem dunklen, feuchtwarmen Keller zwischen Müll und Plastikflaschen. Seine Familie hat er nicht wieder gesehen. Haben die Eltern nach ihm gesucht? »Nein. Die wollen mich nicht.« Zum Essen und Duschen kommt er ins Jugendzentrum. Vielleicht, so der Junge, will er irgendwann einmal lesen und schreiben lernen.

Sonjas Zielsetzung geht da schon einen Schritt weiter. »Ich möchte Sportlehrerin werden. Am liebsten mag ich Gymnastik und Basketball.« Was sie dann sagt, würde bei anderen Teenagern wohl spießig klingen. Nicht jedoch bei Sonja. »Ich träume von einem eigenen Haus. Ein Dach über dem Kopf – das ist das Wichtigste.«