Wir sind überall

Der Neoliberalismus ist nicht hegemonial, sondern krisenhaft. Das eröffnet neue Spielräume für Individualität. von joachim bischoff und christoph lieber

In den vergangenen Jahrzehnten registrieren wir in den europäischen Metropolen Protest- und Widerstandsaktionen gegen eine weitere Verschlechterung der sozialen Standards, die über die Konfliktdimensionen von gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen hinausgreifen. Den Hintergrund bilden die Massenarbeitslosigkeit, scharfe Verteilungskonflikte und eine seit Jahren anhaltende Tendenz der Verschlechterung sozialer Leistungen. Sie prägen sowohl die privaten Lebensverhältnisse vieler Menschen als auch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Der gegenwärtige Kapitalismus hat sich weit von den Zeiten eines regulierten kapitalistischen Systems entfernt.

Die Ausweitung der Warenproduktion und die Verallgemeinerung der Marktsteuerung werden von der wirtschaftlichen Elite mit großer Energie vorangetrieben. Der Neoliberalismus bildet den ideologischen Überbau der Machtstrukturen des gegenwärtigen Kapitalismus. Den Kern der Restrukturierung der Kapitalakkumulation bildet die über die Liberalisierung des Kapitalverkehrs Ende der siebziger Jahre herausgebildete neue Qualität der Finanzmärkte. Die regulierte Kapitalakkumulation der ersten Nachkriegsjahrzehnte wurde durch die Erosion der fordistischen Strukturen der Wertschöpfung und die relative Verselbständigung der Finanz- und Vermögenswerte unterminiert. Politisch verwirklicht wird der neoliberale Rückbau des Sozialstaats und die Entfesselung des Kapitalismus in klassenübergreifenden Allianzen zwischen Lohnarbeit und Kapital.

Auf der anderen Seite wäre es verkürzt, die Entfesselung und Deregulierung nur als aufgenötigte, repressive Tendenz zu betrachten. Die Veränderung im System gesellschaftlicher Lohnarbeit hat für einige Beschäftigte auch positive Aspekte. Das Prinzip der Selbstorganisation soll die Beschäftigten zu unternehmerischem Handeln auffordern. Selbstführung, Selbststeuerung, Selbstorganisation und »Empowerment« – oder wie auch immer die Charakterisierungen dieses geforderten neuen Arbeitnehmertypus, des so genannten Arbeitskraftunternehmers, lauten mögen – sind Reaktionen und Folgen neuer Bedingungen und Strukturen der Lohnarbeit.

Die neoliberale Veränderung des Kapitalismus steht auch für erweiterte Spielräume von Individualitätsentwicklung, freilich mit einer Ambivalenz und Verletzbarkeit. Die im Produktionsprozess geforderte und entwickelte Selbstorganisation bleibt nicht nur auf die Steuerung der Verausgabung der eigenen Arbeitskraft im Unternehmen beschränkt, sondern wird auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen. Die Zweischneidigkeit der Entwicklung von Produktivität und Individualität erhält eine neue Ausprägung.

Diese Umbruchsituation hat höchst disparate Zeitdiagnosen hervorgebracht. Mit Verweis auf die Informatisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Erschließung der Subjektivierung von Arbeit und die Ausweitung der Selbstorganisation ist auf die Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise des High-Tech-Kapitalismus geschlossen worden. Auf der anderen Seite kann ein Nebeneinander von taylorisierten Arbeitsprozessen, Akkumulationskrise, ökonomischer Stagnation und finanzkapitalistischen Überschussbewegungen festgestellt werden, was uns zu der Hypothese von einer anhaltenden Krise des Fordismus veranlasst.

Die ökonomischen Grundstrukturen des gegenwärtigen »Finanzmarktkapitalismus« bergen zu viele Instabilitäten und Widersprüche, um von einer auf High-Tech basierenden, konsistenten und entwicklungsfähigen »neoliberalen Produktionsweise« sprechen zu können. Auch Vertreter der These einer hegemonialen neoliberalen Produktionsweise müssen eine »allgegenwärtige Angst, in den Abgrund des Ruins und der sozialen Deklassierung gestürzt zu werden« (Thomas Barfuss), konstatieren. Angst als gesellschaftlicher Rohstoff ist aber eher Indiz einer nicht bewältigten Transformationskrise als einer stabilen Hegemonie.

Unsere These lautet: In den angelsächsischen Ländern wurde die Entwicklung zu flexiblen Arbeitsmärkten und einem Finanzmarktkapitalismus durch eine politische Bekämpfung der Gewerkschaften durchgesetzt. Im rheinischen Kapitalismus hat sich die Veränderung schleichend vollzogen. Eine neue Formation ist aus dieser langwierigen Krise des fordistischen Produktionsmodells und Akkumulationsregimes noch nicht entstanden.