Codes auf der Haut

Neuer Bildband über Tattoos

Wollte man eine Kulturgeschichte des Tattoos schreiben, käme man um einen Besuch in den Gefängnissen nicht herum. Es ist kein Geheimnis, dass gerade dort der Stich mit der Farbnadel für die Inhaftierten einen besonders hohen ästhetischen Wert hat. Doch diese Feststellung übersieht die Funktion und Bedeutung von Gefängnistätowierungen als soziopolitische Geheimsprache, die nur zu entschlüsseln gelernt hat, wer selbst längere Zeit einsaß. Und der hält nach seiner Freilassung meist die Klappe.

Ausnahmen von dieser Regel sind selten, umso bemerkenswerter ist der im Steidl-Verlag erschienene Bildband »Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia«. Fotos, Zeichnungen und Texte des Bandes stammen aus einer Sammlung von über 3 600 Tätowierungen. Zusammengetragen hat sie über 33 Jahre lang der 1930 geborene russische Wachmann Danzig Baldaev im berüchtigten St. Petersburger Kresty-Gefängnis. Baldaevs Vater war, bevor er in eines der zahlreichen sowjetischen Lager musste, ein berühmter Ethnologe. Und er war es auch, der seinen Sohn – der selbst viele Jahre in einem Heim für »Kinder von Staatsfeinden« verbrachte – beschwor, die Tattoos und ihre Bedeutungen festzuhalten, damit sie nicht verloren gingen. Das wären sie freilich, wäre Baldaev nicht ausgerechnet Gefängniswärter geworden – eine Berufswahl, die vor dem Hintergrund seiner Biografie möglicherweise etwas sonderbar erscheint.

In seiner unbedingt lesenswerten Einleitung erklärt der russische Linguist Alexej Pluzer-Sarno den »Symbolismus von Gaunertätowierungen«. So wie der Gaunerjargon eine »maskierte Sprache« sei, in der neutrale Begriffe mit codierten Bedeutungen aufgeladen werden, liefern Gefängnistätowierungen geheime symbolische Informationen »vermittels allegorischer Bilder, die auf den ersten Blick ganz vertraut scheinen: eine nackte Frau, Teufel, brennende Kerze, Schlange, Fledermaus und so weiter«. Der tätowierte Körper eines Ganoven gleiche der Abbildung einer »Paradeuniform«, mitsamt ihren Insignien, Orden, Auszeichnungen, Rangabzeichen etc. Dementsprechend verfüge ein Gefangener ohne Tätowierungen über keinerlei sozialen Status – man nennt ihn »petuschok« (Hähnchen).

Der Bedeutungsraum der Tätowierungen erstreckt sich von einfachen Autogrammen, Machtdemonstrationen (beliebt: der Löwenkopf) und Feindabbildungen (der Teufel oder Stalin als beredte Symbole fremder Übermacht) bis zu Erniedrigungen mithilfe von Zwangstattoos. So kann es einem Sexualstraftäter passieren, dass man ihm gegen seinen Willen einen Hasen eintätowiert, das geläufige Symbol seiner »Schwäche«. Bitterernst ist das, weil ein derartiges Zwangstattoo einen empfindlichen Statusverlust zur Folge hat. Leichter wird das (Über-)Leben dadurch nicht.

Vielleicht kann man es auch so sehen: 256 von Baldaev knapp erläuterte Bilder (Fotos und Abzeichnungen) mit vorwiegend antisowjetischen, sexistischen, Gewalt verherrlichenden, rassistischen oder antisemitischen Bedeutungen werfen ein grelles Licht auf das, was Gefängnisse stets sind: brutal hierarchisierte soziale Ordnungsgefüge.

michael saager

Danzig Baldaev: Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia. Steidl Verlag, Göttingen 2005, 400 S., 20 Euro