Die Krise von morgen

Die alarmistische Warnung vor einer »Legitimationskrise der Demokratie« hat eine rationale Grundlage: die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse. von richard gebhardt

Das Ergebnis der Bundestagswahl schüttelt das Führungspersonal der Parteien durcheinander, der Wechsel gestaltet sich turbulent: Franz Müntefering verzichtet nach der Abstimmungsniederlage seines Kandidaten Kajo Wasserhövel gegen Andrea Nahles auf das »schönste Amt neben dem Papst«, das des Vorsitzenden der SPD, und Edmund Stoiber verkündet seinen ungeordneten Rückzug ins Stammland von »Laptop und Lederhose«.

Die stellvertretende Vorsitzende der SPD, Heidemarie Wieczorek-Zeul, will nach dem »Linksflutsch« (Frankfurter Allgemeine Zeitung) des Parteivorstands Platz machen für eine »Verjüngung« der Partei, die flugs Brandenburgs Ministerpräsidenten Matthias Platzeck zum Nachfolger August Bebels kürt. »So macht ihr Deutschland kaputt!« sorgt sich Bild, und auch liberalen Leitartiklern machen die »Berliner Chaostage« (Bild) einige Sorgen. »Denn wenn der Eindruck dieser Woche nicht bald widerlegt wird«, warnt die Zeit, »haben wir nicht nur die Krise unserer sozialen Systeme, nicht nur die Herausforderung von fünf Millionen Arbeitslosen. Dann haben wir die Legitimitätskrise des demokratischen Systems selbst.«

Eine »Legitimitätskrise des demokratischen Systems«? »Bonn ist nicht Weimar!« wurde vor den Tagen der Berliner Republik all jenen Mahnern zugerufen, die eine Krise des politischen Systems der Bundesrepublik konstatierten. Tatsächlich waren die politischen Verhältnisse hierzulande im europäischen Vergleich bislang höchst stabil und galten als Erfolgsgeschichte, die weitergeschrieben werden sollte. Die »Berliner Republik« lockte mit den Verheißungen des »Neuen Markts«, und »Netzwerker« aller Parteien kreierten zahlreiche Jobbörsen, die offiziell als politische Strömungen verkauft wurden. Nun repräsentieren die »89er aus der DDR«, wie die taz Angela Merkel und Matthias Platzeck nennt, die Volksparteien, deren Bindungskraft nachlässt.

Beiden obliegt eine Aufgabe, die sich von jenen der verklärten Jahre des »rheinischen Kapitalismus« unterscheidet. Dessen Geschäftsgrundlage waren die soziale Marktwirtschaft und die Sozialpartnerschaft, die Einbindung von Lohnarbeitern und Angestellten. Welche Reaktionen Politiker sich von der Bevölkerung unter den gegenwärtigen Bedingungen »leerer öffentlicher Kassen« zu erwarten haben, hat Roland Koch am Rande der Koalitionsverhandlungen ausgesprochen: »Heulen und Zähneklappern«.

Deshalb hat die Warnung vor einer »Krise« trotz des unangemessen alarmistischen Tonfalls auch einen rationalen Kern. Die sozioökonomische Massenintegration ist im Prozess der Globalisierung schwieriger geworden; das Ziel der Vollbeschäftigung und die Wachstumsideologie erweisen sich als Illusionen. Was zu einer deutlichen Senkung der Zahl der Arbeitslosen führen könnte, ist nur zum Preis einer Schicht deutscher working poor zu haben. Die Leistungen des Sozialstaats stehen zur Disposition. Lohnarbeit wird als Kostenfaktor gehandelt, soll zugleich aber die Voraussetzung für die Kaufkraft bilden. Längst schon ist auch in Eröffnungsreden auf Soziologentagen wieder von einer Klassengesellschaft die Rede.

Die publizistischen Meinungsmacher von Bild bis Spiegel fordern allerlei »Zumutungen«, für deren politische Durchsetzung nach der Bundestagswahl die klare Mehrheit fehlt. Die »Krise« wird bislang vornehmlich in diesen Redaktionsstuben beschworen. Trotz stündlich wechselnder Meldungen über höhere Steuern und der ministeriellen Hetze gegen »Parasiten« bleibt die kritische Öffentlichkeit lethargisch. Eine Opposition außerhalb der Parteien existiert nicht. Die imaginierte »strukturelle linke Wählermehrheit« (Freitag) ist nicht handlungsfähig, und die Sozialdemokratie wird nach dem befürchteten »Linksruck« wieder von einem Vertreter der Agenda-SPD geführt, von Matthias Platzeck, der Seite an Seite mit Jörg Schönbohm Erfahrungen mit einer großen Koalition in Brandenburg gemacht hat.

Was derzeit beobachtet werden kann, sind die Schwierigkeiten des politischen Personals bei der Vorbereitung ihrer Einschnitte und Kürzungen. Der Protest dagegen wurde zu großen Teilen von der Linkspartei gebündelt und an ihre Parlamentarier delegiert. Die Rede von der »Legitimitätskrise des demokratischen Systems« ist derzeit noch eine Übertreibung. Aber es ist nicht ausgemacht, dass das so bleibt.