Japans Bester

Das Werk des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa wird endlich auf DVD zugänglich gemacht. von max dax

Doktor Sanada praktiziert in einer armseligen Praxis in einem heruntergekommenen Tokioter Stadtviertel und ist ein hoffnungsloser Säufer. Trotzdem halten seine Patienten viel von ihrem Arzt, der wie sie selbst in der Nähe eines stinkenden, von einer Bahntrasse eingefassten Sumpfes lebt. Für sie ist er ein dauerbetrunkener Engel, einer, der selbstlos Gutes tut. Eines Abends wird Sanada (Takashi Shimura) von Matsunaga (Toshirô Mifune), dem aufstrebenden Yakuza des Stadtviertels, aufgesucht. Neben einem Einschussloch in der Hand diagnostiziert Sanada eine fortgeschrittene TBC-Erkrankung. Die Horrorvorstellung vor Augen, als kranker Mann den Nimbus des Unbesiegbaren zu verlieren, verweigert Matsunaga die Behandlung. Trotzdem bemüht sich der Doktor um seinen Patienten, denn wenn der Stolz eines Mannes so groß ist, dass er die Ursache dafür nicht mehr in seiner inneren Einsamkeit sucht, muss ihm ein Außenstehender, einer wie Sanada, helfen.

In Japan gilt Akira Kurosawas bereits 1948 gedrehter Film »Der trunkene Engel« (der in seiner DVD-Neuauflage unerklärlicherweise den neuen Titel »Engel der Verlorenen« verpasst bekommen hat) als Schlüsselwerk des Nachkriegskinos, in seiner Bedeutung nur mit Roberto Rossellinis »Paisà« oder Vittorio De Sicas neorealistischem Klassiker »Fahrraddiebe« vergleichbar. Und tatsächlich verblüfft Kurosawas Parabel über die Frage, ob und wie stark der Mensch wandlungsfähig ist, auch knapp 60 Jahre nach ihrer Fertigstellung. Gleichzeitig zeigt der Film, der für Kurosawa seinerzeit den Durchbruch vom Drehbuchschreiber zum Regisseur markierte, das materielle und psychische Elend, aber auch die Freiheiten dieser japanischen Umbruchszeit, an die sich, wie so oft, die Verbrecher als erste anpassen konnten.

»Der trunkene Engel / Engel der Verlorenen« gehört zu den erfreulichen Überraschungen unter den neun Filmen von Akira Kurosawa, die in den vergangenen Wochen sukzessive veröffentlicht wurden. Auch »Ikiru (Einmal wirklich leben)« ist nichts weniger als ein absoluter Glücksfall – und in gewisser Hinsicht handelt es sich um die gleiche Geschichte, die in »Der trunkene Engel« erzählt wird, bloß mit vertauschten Rollen. Wieder spielt der hierzulande wenig bekannte Takashi Shimura die Hauptrolle, doch dieses Mal ist er derjenige, der wegen einer Krebserkrankung nur noch wenig Zeit zu leben hat. Er geht nicht mehr zur Arbeit und versucht, das Versäumte nachzuholen.

Verblüffend sind »Der trunkene Engel« und »Ikiru« auch deshalb, weil mit ihnen ein Zeittunnel zu einem verschwundenen Land namens Japan, wie es kurz nach dem Krieg ausgesehen hat, geöffnet wird. Denn beide (wie auch der Film »Bilanz eines Lebens«) spielen im modernen, zwischen Traditionen und moderner Flexibilität zerrissenen Japan – eine aus heutiger Sicht ungemein exotische Filmkulisse.

Bekannt geworden ist Kurosawa in Deutschland allerdings nicht mit seinen gesellschaftskritischen und meist bis in die letzten Nebenrollen perfekt besetzten Gegenwartsfilmen. Welterfolge feierte der stets besessen und akribisch arbeitende Regisseur mit meisterhaft inszenierten Samurai-Filmen wie »Die sieben Samurai«, »Das Schloss im Spinnwebwald«, »Die verborgene Festung«, »Sanjuro« und »Yojimbo – der Leibwächter«. In allen fünf Filmen spielt Toshirô Mifune die Hauptrolle, zumeist einen Samurai, der sich seiner glorreichen Tage erinnert und sich noch einmal bewähren muss.

Kurosawa gebührt das Verdienst, dass er entgegen der japanischen Tradition mit seinen Samurai-Epen eben keine Kostüm- oder Historienfilme abgedreht hat (obwohl auch sie detailverliebt ausgestattet sind), sondern in ihnen stets existenzielle Konflikte seiner Protagonisten durchdeklinierte. Auch filmisch ging er einen entscheidenden Schritt weiter als seine Zeitgenossen: Verliebt in das expressive Schwarzweiß des auch in Japan traditionsreichen Stummfilms, legte der Regisseur neben der Narration und dem Schauspiel ungemeinen Wert auf die Texturen und den Rhythmus des Visuellen. »Gedreht«, so erklärte er einmal, habe er nur, »um anschließend genug Material zum Schneiden zu haben«.

Von den fünf wiederveröffentlichten Samurai-Filmen ragen »Das Schloss im Spinnwebwald« und »Die verborgene Festung« eben wegen ihrer radikalen filmischen Qualitäten heraus. Die amerikanischen Regisseure George Lucas und Francis Ford Coppola waren von Kurosawa dermaßen beeindruckt, dass sie ungeniert Bilder, Schnitte oder gleich ganze Plotlinien vom japanischen Meisterregisseur klauten bzw. aus dessen Werk zitierten. Figuren wie die Prinzessin Leia und Han Solo aus »Die verborgene Festung« sowie das Motiv, hinter der Frontlinie im Feindesland den übermächtigen Gegner auszutricksen, finden sich derart unverhohlen in »Krieg der Sterne« wieder, dass Lucas’ Blockbuster von 1977 wie die Übersetzung eines Märchens aus dem japanischen Mittelalter in die ferne Zukunft wirkt.

Ähnlich verhält es sich mit »Das Schloss im Spinnwebwald«. Die suggestiven, phantastischen Nebelschwaden im Spinnwebwald (und durch sie hindurchirrende Samurai in voller Kampfmontur) bilden ein mehr als beeindruckendes Exposé für Ausflüge in den Horror und ins Surreale und wurden Jahrzehnte später von Ridley Scott in »Alien« aufgegriffen. Andere Regisseure drehten gleich komplette Kurosawa-Werke in Hollywood nach: »Yojimbo – der Leibwächter« diente Sergio Leone und Walter Hill gleichermaßen als Blaupause für ihre Filme »Für eine Handvoll Dollar« und »Last Man Standing«. »Die Sieben Samurai« (1954) erfuhren dank John Sturges sechs Jahre später ihre Wiederauferstehung unter der Führung Yul Brynners, in dem Western »Die glorreichen Sieben«.

So lobenswert also die DVD-Veröffentlichung der insgesamt neun Kurosawas einschließlich der wunderbaren Gorki-Verfilmung »Nachtasyl« von 1957 ist – es bleibt unverständlich, weshalb für die deutsche Ausgabe auf die teilweise arg angegriffenen Originalmaster des Tokioter Filmstudios Toho und nicht auf die vorbildlich digital restaurierten Kopien des British Film Institute zurückgegriffen wurde. Gänzlich rätselhaft, weil ein Rückschritt in alte VHS-Zeiten, bleibt auch die Entscheidung, im Falle der »Sieben Samurai« die um rund 20 Minuten gekürzte deutsche Atlasfilm-Fassung ohne jegliche japanische Tonspur zu übernehmen. Alle neun Filme – obgleich ausnahmslos Klassiker der Filmgeschichte – sind außerdem in talentfrei gestalteten Billigcovern erschienen.

Akira Kurosawa, der in seinem Leben 30 Spielfilme gedreht hat, starb am 6. September 1998. Die nahezu gleichbleibend hohe künstlerische Qualität seines Werks lässt ihn gleichrangig neben Regisseuren wie Federico Fellini oder Alfred Hitchcock stehen. Zweifellos ist er der wichtigste (und zugleich westlichste) Visionär des japanischen Kinos. Umso verwunderlicher ist es, dass selbst nach diesem Veröffentlichungsschwung die Mehrzahl seiner Werke – darunter »Rashomon«, »Die Bösen schlafen gut«, »Das stumme Duell« und »Ein herrenloser Hund« – nach wie vor auf ihre Wiederveröffentlichung als DVD harrt. Was das anbetrifft, teilt Kurosawa allerdings das Schicksal seines Vorbildes John Ford: Der amerikanische Regisseur hat weit über 100 Filme gedreht, aber nur ein Bruchteil von ihnen ist bisher neu erschienen.

Die DVDs von Akira Kurosawa sind bei Pegasus Entertainment erschienen.