Jimmy, 5000 Euro

»Das Kind«, der neue Film der belgischen Gebrüder Dardenne, ist eine beeindruckende Sozialstudie und ein heftiges Liebesdrama. von andreas hartmann

Der klassische Outlaw lebt frei und neben den Konventionen. An Gesetze hält er sich schon qua Bestimmung nicht, zu Geld kommt er immer irgendwie, er muss halt in Bewegung bleiben. Wovor er sich in Acht nehmen muss, sind lediglich die Gesetzeshüter und die lästigen Frauen, die einen immer ganz für sich behalten wollen, was natürlich nicht geht. Der Outlaw muss, um bei sich zu bleiben, ungebunden sein, und wenn er sich dann doch einmal darauf einlässt, gemeinsam mit einer Frau nach eigenen Regeln und eigener Moral durch die Lande zu ziehen, geht die Sache, siehe Filme wie »Bonnie & Clyde« oder »Badlands«, am Ende immer schief.

Am wohlsten fühlt sich der Outlaw in den USA. Er und seinesgleichen haben das Land überhaupt erst aufgebaut und dafür gesorgt, dass die Mythen von Freiheit und der Vorstellung eines anderen Lebens immer wieder erneuert werden konnten. Bruno jedoch, der wie jeder klassische Outlaw Held und Antiheld gleichzeitig ist, lebt nicht in den USA.

In »L’enfant«, »Das Kind«, dem neuen Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, kann er sich nicht auf der Flucht vor der Polizei oder anderen Verfolgern durch endlose Weiten schleppen, verstecken muss er sich in einem leeren Container am Fluss, unterhalb einer Fernverkehrsstraße. Bruno lebt auf begrenztem Raum in Seraing, einer tristen belgischen Industriestadt, die sich von vergleichbar tristen englischen Industriestädten wie Sheffield oder Liverpool höchstens dadurch unterscheidet, dass sie noch beengender und trostloser als diese wirkt. Nicht einmal richtiges Elend oder Verwahrlosung gibt es hier, nicht einmal dafür reicht es in dieser Stadt, sondern es herrscht vor allem nüchterne und sterile Ödnis. Die Stadt scheint ein einziger Wohnsilo zu sein.

Bruno ist dennoch ein positiv denkender junger Mensch. Er sieht gut aus, hat keine Frisur, aber dennoch einen coolen und verwegenen Haarschnitt, ein wenig hat er das Charisma des jungen Jean-Paul Belmondo, und er wirkt so, als würde er jeden Morgen nach dem Aufstehen erst einmal laut und befreit brüllen: »Ich will leben!« Und so holt er es sich einfach, das Leben. Er hat keine Angst vor dem Morgen, er lebt immer nur heute, und das Geld liegt für ihn im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße. Er ist ein kleiner Gauner, ein cleverer Habenichts und Taschendieb, einer, der von der Hand in den Mund lebt und sich anscheinend wohl fühlt dabei. Er macht seinen Schnitt. Er lässt auch noch kleine Jungs, 14jährige Schüler, für sich arbeiten, während er den losen Kontakt zu den Großen, zum organisierten Verbrechen und zu Hehlern, hält. Bruno will gar kein anderes Leben. »Arbeiten ist etwas für Arschlöcher« sagt er, und: »Ich bin frei, lasst mich nur machen.«

Sein Problem ist seine Freundin Sonia. Die ist schwanger. Von ihm. Sie will das Kind, und sie will, dass Bruno die Rolle eines Vaters und Verantwortung übernimmt. Was Bruno natürlich nicht kann, Verantwortung ist für einen Outlaw ein Fremdwort. Dennoch braucht er Sonia, er braucht den Halt, den er bei ihr findet. Doch sich um sie kümmern, das kann er nicht, er muss schnell wieder weiter, die Geschäfte warten, Geld muss her, und Geld muss auch schnell wieder ausgegeben werden, dieser Kreislauf, den Bruno selbst steuern zu können glaubt, liefert ihm die Illusion von Freiheit. Bloß keine Vaterrolle jetzt, bloß keine Verpflichtungen, die diesen Kreislauf und seine Freiheit in Gefahr bringen könnten.

Für Bruno ist es absolut folgerichtig, dass sogar sein Kind nicht mehr ist als etwas, womit sich auch noch Geld verdienen lässt, schnell verdientes Geld. Er kennt es ja nicht anders, alles, das hat er gelernt, lässt sich zu Geld machen. 5 000 Euro werden ihm von einer dunklen Organisation für das Kind angeboten. Bruno fragt nicht, was mit dem Kind geschehen wird, wenn es verkauft ist, es interessiert ihn nicht, ob seine Freundin mit dem Verkauf ihres eigenen Kindes einverstanden ist. Bruno hat keine Moral, nicht weil er so ein verkommenes Arschloch ist, sondern weil er mit moralischen Kategorien und gesellschaftlichen Konventionen nie groß etwas zu tun hatte. Genau die lehnt er ja ab. Außerdem empfindet er nichts für sein Kind, es ist ihm lästig, und er kann sich auch gar nicht vorstellen, dass seine Freundin etwas für es empfindet. Als er Sonia mitteilt, dass er ihren Sohn, den sie Jimmy getauft haben, verkauft habe, und diese daraufhin völlig zusammenbricht, meint er nur, sie könnten ja »ein neues machen«.

Der Verkauf des Kindes ändert dennoch alles. Bruno wird völlig aus der Bahn geworfen. Nun muss er sich entscheiden: Bleibt er Outlaw oder steht er ein für seine Beziehung mit Sonia? Für Bruno setzt hier ein schmerzhafter Lernprozess ein, für ihn beginnt eine wahre Passion. Ein Zurück zur Unschuld gibt es für ihn nicht mehr, auch nachdem er sich für Sonia und ihre Liebe entschieden hat. Bruno fällt immer tiefer. Obwohl er den Verkauf des Kindes rückgängig machen kann, steckt er nun in einer tödlichen Schlinge, in die er sich mit jedem Versuch, sich aus ihr zu befreien, nur noch stärker verstrickt. Am Ende bleibt ihm nichts anderes als seine Moral, also etwas, das er bis vor kurzem gar nicht mal kannte. Seine Moral rettet ihn, er opfert sich am Ende, für sich selbst und für andere.

»L’enfant« hat zu Recht die goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes gewonnen. Die jungen Schauspieler und ihre pralle Lust auf Leben, ein mitreißender Jérémie Rénier als ein Bruno, der einem trotz seiner Schwächen immer sympathisch ist, und ein Sozialdrama, das spannend und niemals rührselig erzählt wird, fesseln einen von Anfang an. Die Kapitalismuskritik der Dardenne-Brüder erinnert weniger an das typische englische Kampf-der-Deklassierten-Kino, dem sein politisches Anliegen immer gerne zu arg in den Vordergrund gerät, sondern wird lakonisch wie etwa in Pier Paolo Pasolinis »Accatone« ausgebreitet. Das behutsame Erzählen in sparsamen Bildern verdankt natürlich auch einiges dem von den Dardenne-Brüdern sichtlich verehrten Spartaner-Kino Robert Bressons, wo in ähnlicher Weise Verstrickungen und Verwerfungen mit unbarmhärziger Härte einfach nur verfolgt und niemals überhöht werden. »L’enfant« erzählt zuvorderst eine spannende, rührende und wilde Geschichte.

»L’enfant« (Belgien, 2005). Regie: Jean-Pierre & Luc Dardenne. 95 Minuten. Start: 17. November