Mehr Geist, weniger Geld

Die große Koalition sprüht vor Ideen: Der Kündigungsschutz wird gelockert, die Mehrwertsteuer erhöht, und auch die Reichen sollen ein Almosen abgeben. von jesko bender

Offenbar hat man in einem Land, das früher ›Judensteuern‹ erhob, keine Hemmung mehr vor der Verwendung stigmatisierender Bezeichnungen.« Wovon spricht Stefan Homburg, der Finanzwissenschaftler und Berater Angela Merkels, an dieser Stelle in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ? Er meint die Einführung der so genannten Reichensteuer, auf welche sich die SPD und die Union einigten. Sie sei der moralische und ökonomische Tiefpunkt des Koalitionsauftakts. Vielleicht aber war seine Äußerung auch der Tiefpunkt der Kritik am Koalitionsvertrag, der in der vorigen Woche vorgestellt worden war.

Ob Gewerkschaften, Sozialverbände, Wirtschaftsinstitute, Sozialdemokraten oder Christdemokraten, es gibt kaum jemanden, der den Vertrag nicht für eine mittlere bis größere Katastrophe hält. So fühlten sich denn auch alle angesprochen, als Merkel bereits bei der Vorstellung des Vertrages Durchhalteparolen ausgab: »Wir wissen, dass wir den Menschen mit diesem Koalitionsvertrag auch etwas zumuten.« Betrachtet man allerdings die Heftigkeit der Stellungnahmen aus der Wirtschaft und aus der Union, könnte man meinen, insbesondere an diese seien Merkels Worte gerichtet gewesen.

Der frühere Fraktionsvorsitzende der Union, Friedrich Merz, sagte der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, er könne »in diesem Koalitionsvertrag eine Handschrift der Union einfach nicht erkennen«. Sie laufe Gefahr, vollends ihr wirtschafts- und finanzpolitisches Profil zu verlieren. Der Vertrag bringe die Christdemokraten in wesentlich größere programmatische Schwierigkeiten als die Sozialdemokraten. »Für die Steuerpolitik können Sie sagen: So viel SPD war nie.«

Weniger analytisch, vielmehr enttäuscht, trotzig und wütend reagierten dagegen viele Vertreter der Wirtschaft. »Ich glaube, dass die Ehrlichkeit in der Politik absolut abhanden gekommen ist«, echauffierte sich der Vorstandsvorsitzende von Porsche, Wendelin Wiedeking, bereits vor der offiziellen Vorstellung des Vertrags auf einer Veranstaltung von Bild am Sonntag. Die Politiker sollten endlich verstehen, dass sie es mit mündigen Bürgern zu tun hätten, und »uns nicht weiter belügen«.

Nur eins sei in den Koalitionsverhandlungen zum Thema gemacht worden, monierte beim gleichen Anlass der Vorstandsvorsitzende von BMW, Helmut Panke: »Wem kann ich noch etwas aufladen?« Und der Präsident des Bundesverbands des Deutschen Groß- und Außenhandels, Anton Börner, drohte schon einmal: »Wenn es dabei bleibt, werden die Unternehmen weiter ihre Geschäftspläne abarbeiten, und die sehen keine nennenswerten Investitionen in Deutschland vor.«

Die heftige Kritik richtet sich insbesondere gegen die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent ab 2007. Mit ihr werde nicht nur die ohnehin schon geringe Kaufkraft der Konsumenten geschwächt, wie der Sprecher des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels, Hubertus Pellengahr, betonte. Die Einnahmen aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer dienten zum größten Teil dazu, Haushaltslöcher zu stopfen, anstatt die Sozialversicherungsbeiträge zu senken, beklagte Dieter Hundt, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

Unterstützt wird diese Kritik vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IFW). Die große Koalition habe sich trotz der Warnungen des Instituts für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer entschieden. Nötig wäre dagegen eine Kürzung der Staatsausgaben gewesen, sagte Joachim Scheide vom Institut. Stattdessen würden offenbar noch Ausgabenerhöhungen beschlossen, die finanziert werden müssten. »Dies durch Steuern zu tun, ist für die Konjunktur schädlich.« Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband empfindet die Erhöhung gar als »Gift für die Konjunktur«.

Der Aufruhr von Wiedeking, Börner und Co. scheint jedoch weniger an den Tatsachen orientiert, als aus der Enttäuschung zu resultieren, dass das Kanzleramt nicht gleich den Vertretern der Wirtschaft ausgehändigt wurde. Denn eigentlich könnten die deutschen Industriellen der SPD und der Union dankbar sein, dass sie das rot-grüne »Reformprojekt« nun in einer verschärften Gangart weiterführen. Eine aktuelle Umfrage des Handelsblatt unter 805 deutschen Managern kommt zu dem Ergebnis, dass die Stimmung in der »Elite der deutschen Wirtschaft« derzeit so positiv sei wie seit dem April 2003 nicht mehr. 37 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sich in den nächsten zwölf Monaten die Bedingungen verbessern werden, 22 Prozent erwarten »unverändert gute Bedingungen«. Weit mehr als die Hälfte der Manager ist also optimistisch gestimmt.

Und viele der Vereinbarungen des Koalitionsvertrages sollten eigentlich für Freude bei den Unternehmern sorgen, etwa die drastische Lockerung des Kündigungsschutzes. Dieser gilt zukünftig nicht mehr nach sechs Monaten, sondern erst nach zwei Jahren. Ohne Angabe von Gründen und ohne eine Abfindung kann in diesem Zeitraum innerhalb von vier Wochen eine Kündigung wirksam werden. Faktisch bedeutet das eine Probezeit von zwei Jahren. Eine Arbeitskraft kann in diesem Zeitraum also ohne juristischen Hickhack in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Und dies kann viele Lohnabhängige betreffen: Nach Angaben des DGB werden derzeit 50 Prozent der Kündigungen in Deutschland in den ersten zwei Jahren ausgesprochen.

Die Lockerung des Kündigungsschutzes dürfte auch noch andere Folgen haben. Bert Rürup, der Vorsitzende des Rats der Wirtschaftssachverständigen, geht davon aus, dass der »Turnover« am Arbeitsmarkt, also die Arbeitsplatzrotation, stärker werde. Je mehr Menschen entlassen würden, desto mehr Menschen würden, wenn auch nicht für allzu lange Zeit, einen Job finden. Das sei eine Möglichkeit für Langzeitarbeitslose, wieder Arbeit zu finden, meint er. Jeder soll also einmal dürfen.

Heide Pfarr, die Professorin für Arbeitsrecht an der Universität Hamburg, betont vor allem die psychologischen Auswirkungen der Lockerung des Kündigungsschutzes. Rund 30 Prozent aller Beschäftigten würden nie wieder den Kündigungsschutz in Anspruch nehmen können. »Sie werden immer in sozialer Unsicherheit leben«, sagte sie der taz. Aber nicht nur die soziale Sicherheit werde sich verändern, sondern auch die Möglichkeiten der betrieblichen Mitbestimmung. »Wer in Probezeit ist, treibt sich nicht in der Nähe des Betriebsratsbüros herum«, glaubt sie.

Aber wenn schon alles so sein muss, wie es ist und kommt, dann sollte wenigstens der »Geist« stimmen. So baten der designierte Vorsitzende der SPD, Mathias Platzeck, und Angela Merkel in der vorigen Woche gleichermaßen darum, die große Koalition zu unterstützen. Merkel betonte die Leidenschaft, mit der die Koalitionsgespräche geführt worden seien. »Wir wollen mehr aus diesem Land machen«, meinte sie. Platzeck hingegen sagte nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen: »Die Menschen haben erhebliche Erwartungen an uns.« Sie wollten Vertrauen fassen. »Dazu braucht es einen besonderen Geist.« Und der sei seiner Meinung nach in den Verhandlungen entstanden. Es kommen geistreiche Zeiten auf uns zu.