Aktenzeichen ungelöst

Ein Jahr nach dem Tod Oury Jallohs in einer Polizeizelle in Dessau sind in diesem Fall noch viele Fragen offen. Die Hauptverhandlung könnte dennoch ausfallen. von titus engelschall

Dessau, an einem kalten Januarmorgen. Zwei Frauen säubern im Auftrag der Stadt die Straßen. Sie fühlen sich dabei von einem stark angetrunkenen Mann gestört und rufen die Polizei. Die Beamten wollen den Mann festnehmen, er protestiert, versteht nicht, warum er mitkommen muss, er habe doch seine Papiere dabei. Auf der Wache interessiert die angeblich ungeklärte Identität des Mannes nicht mehr, man nimmt ihm Blut ab, bringt ihn in die geflieste Zelle Nummer fünf im Kellergeschoss und fesselt ihn mit Handschellen an Händen und Füßen. Knapp drei Stunden später ist Oury Jalloh tot, qualvoll verbrannt im Polizeigewahrsam.

Am 7. Januar 2006 jährt sich der Tod des jungen Mannes aus Sierra Leone. Es ist still geworden um den Fall. Trotz umfangreicher Ermittlungen sind die meisten Fragen und Widersprüche nicht geklärt. Ob eine Hauptverhandlung eröffnet wird, steht plötzlich in Frage, da das Landgericht nach Monaten der Tatenlosigkeit ihre Zulässigkeit prüfen lässt. Der Rechtsanwalt der Nebenklage, Ulrich von Klinggräff, bezeichnet dies als »einen sehr ungewöhnlichen Vorgang«.

Die Staatsanwaltschaft hatte nach dem Tod Jallohs schnell ihre Version für die ungeheuerlichen Vorgänge auf der Polizeiwache parat: Er habe die Matratze mittels eines Feuerzeuges selbst angezündet, Fremdverschulden sei ausgeschlossen. Danach bleibt lediglich zu klären, ob die Polizeibeamten den Suizid des Mannes hätten verhindern können.

Doch der präsentierte Hergang der Ereignisse wirft mehr Fragen auf, als dass er Antworten gibt. Wie kam Jalloh trotz gründlicher Durchsuchung zu einem Feuerzeug? Wieso brannte die feuerfeste Matratze? Warum wurde der stark alkoholisierte Mann an Händen und Füßen gefesselt und unzureichend überwacht? Welchen Grund gab es für einen Suizid? Woher stammt die Nasenbeinfraktur, die in einer zweiten unabhängigen Obduktion diagnostiziert wurde?

Nach seinem Tod wurde aus Oury Jalloh ein Aktenzeichen, wie er es zu Lebzeiten als Asylsuchender für die bundesdeutschen Behörden war. Der Mann war vor einem der furchtbarsten Bürgerkriege Afrikas geflüchtet. In Dessau beantragte er Asyl, verliebte sich und wurde Vater eines Kindes, das gegen seinen Willen zur Adoption freigegeben wurde – die junge Mutter konnte den Anfeindungen ihrer Umgebung wegen ihres afrikanischen Freundes nicht standhalten. Oury Jalloh kämpfte um das Sorgerecht und träumte von einer Zukunft mit der Familie. Sein Freund Mouctar Bah bezweifelt deshalb auch die Selbsttötungshypothese der Staatsanwaltschaft: »Wenn ich seine ganzen Zukunftspläne zusammennehme, dann war Oury nicht so weit, sich selber umzubringen«, sagte er der ARD.

Für die Dessauer Bevölkerung war er nur einer dieser Flüchtlinge, die am Rande der Stadt und der Gesellschaft leben. So kam auch dem Oberbürgermeister Hans-Georg Otto kein Wort des Bedauerns über die Lippen. Er könne sich »nicht um alles kümmern«, wurde er zitiert. Bei der Trauerfeier glänzten die Stadtoberen durch Abwesenheit. »Man soll sich mal die Frage stellen, was das für einer ist, der morgens betrunken Frauen auf der Straße belästigt«, sagte ein CDU-Abgeordneter während einer Landtagsdebatte. »Man sorgt sich um seinen Ruf und ist bemüht, jegliche Schuld und Verantwortung abzuwehren«, erklärt Matthias Gärtner (PDS) die Reaktionen.

Bei der Dessauer Polizei stehen die afrikanischen Flüchtlinge unter dem Generalverdacht des Drogenhandels. An die ständigen Polizeikontrollen und ­‑schi­kanen haben sie sich längst gewöhnt. Anfänglich wehrten sie sich, doch die Polizei reagierte auf Anschuldigungen stets mit Gegenklagen. Diese Einschüchterungstaktik hat laut Marco Steckel von der Opferberatung Dessau zur Folge, dass die Betroffenen nicht mehr gegen ihre Diskriminierung protestieren.

Mouctar Bahs kleiner Telefonladen im Dessauer Zentrum ist einer der wenigen Orte der Stadt, an dem sich die Flüchtlinge zuhause fühlen und Freunde treffen. Hier trifft sich auch eine kleine Gruppe von Menschen, die für die Aufklärung der Umstände kämpfen, die zum Tod ihres Freundes Oury Jalloh führten. Nunmehr will das Landesverwaltungsamt den Telefonladen mit der rechtlich zweifelhaften Begründung schließen lassen, dort würden Absprachen zum Drogenhandel getätigt.

Auch andere, die der Version der Staatsanwaltschaft widersprechen, werden unter Druck gesetzt. Ein paar Wochen nach dem Tod Jallohs rief die Staatsanwaltschaft spät abends bei einem Redakteur der Mitteldeutschen Zeitung an, der einen kritischen Artikel über Jallohs Tod veröffentlichen wollte, und forderte ihn auf, über den Inhalt noch einmal nachzudenken.

Nach zweimonatigen Ermittlungen erhob die Staatsanwaltschaft im vergangenen Frühjahr Anklage gegen die zwei Dienst habenden Polizisten. Der Dienstgruppenleiter Andreas S. habe wiederholt den Feueralarm abgeschaltet und die Gegensprechanlage leiser gedreht, weil man sich durch den Todeskampf Oury Jallohs beim Telefonieren gestört gefühlt habe. Erst nach drei Minuten hätten sich die Beamten ohne Feuerlöscher in den Keller begeben, als der Rauch bereits ein Durchkommen unmöglich machte. Das berichtete die Po­lizeibeamtin Beate H. Später zog die Hauptbelastungszeugin ihre Aussage bei einer zweiten Vernehmung im Beisein der beiden Kollegen zurück. »Natürlich ist das eine ungeheure Drucksituation, und man spürt bei der neuerlichen Aussage das Bedürfnis der Polizeibeamtin, ihre Kollegen zu entlasten«, interpretiert Klinggräff die Kehrtwende im Rückblick. Mitt­lerweile hat die Beamtin auch ihre zweite Aussage zurückgezogen.

Nur unter dem Druck der Öffentlichkeit gab die Staatsanwaltschaft mit der Zeit einige Details preis, etwa den Mitschnitt des Telefonats zwischen dem Dienstgruppenleiter Andreas S. und dem zur Blutabnahme kontaktierten Arzt Andreas B. »Polizei: ›Pikste mal ’nen Schwarzafrikaner?‹ Arzt: ›Ach du Scheiße. (…) Da finde ich immer keine Vene bei den Dunkelhäutigen.‹ Polizei: ›Na, bring’ doch ’ne Spezialkanüle mit.‹ Arzt: ›Mach’ ich.‹« Den Vorwurf des Rassismus wies der Polizeisprecher Marcus Benedix im Gespräch mit der Jungle World barsch zurück: »Alles aus der Luft gegriffen!« Auch die Ärztekammer Sachsen-Anhalts reagierte in einem Schreiben an die Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus mit Unverständnis. Salopp, derb und burschikos sei der Ton des dokumentierten Telefonats.

Verblüffend sind die Parallelen zu einem früheren Fall. Im November 2002 verstarb der 36jährige Obdachlose Mario Wichtermann im Dessauer Polizeigewahrsam an einer Schädelfraktur, ebenfalls in Zelle fünf. Man hatte seine lebensgefährliche Verletzung übersehen. Der Dienst­leiter hieß Andreas S., der untersuchende Arzt Andreas B. Das damalige Ermittlungsverfahren wurde mit der eleganten Begründung fallen gelassen, die Schwere der Verletzung hätte sowieso zum Tod Wichtermanns geführt.

Ganz ähnlich könnte es im Fall Oury Jallohs kommen. Nach fünfmonatigem Schweigen lässt das Landgericht den Brandverlauf nochmals prüfen. Sollte sich herausstellen, dass es wegen der schnellen Ausbreitung des Feuers nicht möglich war, Jalloh zu retten, müsste die Anklage gegen Andreas S. wegen Körperverletzung mit Todesfolge fallen gelassen werden. Dann würde keine Hauptverhandlung eröffnet, und die Chance, wenigstens einige der zahlreichen Fragen und Widersprüche klären zu können, wäre dahin. Die Entscheidung wird in den nächsten Wochen erwartet.

Am Samstag, 7. Januar, findet von 10 bis 12 Uhr an der Friedensglocke in Dessau eine Mahnwache zum Todestag Oury Jallohs statt. Motto: »Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Aufklärung!«