Schreib mal wieder!

Christoph Türcke hat eine »Kritische Theorie der Schrift« vorgelegt. Darin kritisiert er die Schrifttheorien von Derrida und Deleuze. von philip hogh

Wie sehr Schriftzeichen im Laufe der Geschichte für Orientierung im Denken und Handeln gesorgt haben und wie sehr Schrift heutzutage zum kultischen Gegenstand erhoben wird, dem geht der Leipziger Philosoph Christoph Türcke in seinem neuen Buch nach. Er versucht, eine »Kritische Theorie der Schrift« zu entwickeln, die diesen bislang hauptsächlich vom französischen Poststrukturalismus bearbeiteten Gegenstand seiner Mythologisierung entreißen möchte. Türckes zentrales Theorem lautet in Anlehnung an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: »Schrift ist dem Kult entsprungen und schlägt in Schriftkult zurück.«

Methodisch betrachtet wendet er die von Adorno bereits in den dreißiger Jahren entwickelte »Idee der Naturgeschichte« auf die Entstehung und Entwicklung der Schrift an, wonach Natur und Geschichte zwar vermittelt seien, Geschichte jedoch bislang selbst immer noch ein bloßes Naturverhältnis sei. Die ersten Schriftzeichen begreift er als »Kainszeichen«, die sich von der Natur geängstigte menschliche Urhorden gaben, um die hinter dem Naturschrecken imaginierte Gottheit zu besänftigen.

Diese Besänftigung fand durch Menschenopfer statt. Die darauf folgenden Einritzungen in die menschliche Haut zeugten einerseits von der begangenen Tat, dem Mord am Bruder, andererseits sollten sie vor dem Tod schützen und den Träger des Zeichens der nun besänf­tigten Gottheit unterstellen. Je mehr sich das Verhältnis von Mensch und Natur stabilisierte, desto überflüssiger wurde das Menschenopfer, und desto profaner wurde die Funktion der Schrift. Als Gedächtnisstütze und als Speichermedium entwand sie sich ihrem kultischen Ursprung und wurde zu einem unverzichtbaren Medium zur Regelung des gesellschaftlichen Verkehrs, etwa durch Verträge und Gesetzestexte.

Diese Funktion wurde jedoch auch zu einem Problem, zur »antiken Krise der Schrift« bei Platon. Als Hinterlassenschaft des menschlichen Geistes war sie selbst tot, erst durch einen sie deutenden menschlichen Geist sollte sie teilhaben an der Wahrheit. Bei Platon fallen nach Türcke Denken und Sein, Begriff und Sache, schriftlicher Ausdruck und Wahrheit auseinander. Diese Differenz ist dem Verfasser zufolge Voraussetzung für jedes kritische Bewusstsein.

Bis hierhin ist es die Stärke von Türckes Buch, dass es die Funktion der Schrift aus dem gesellschaftlichen Naturverhältnis der Menschen erklären konnte. Seine Darstellung des Umschlags von Schrift in Schriftkult kommt jedoch vollkommen ohne die Erwähnung des gesellschaftlichen Umschlags von Zivilisation in Barbarei aus. Der Nationalsozialismus findet keine Erwähnung, und so geht auch die deutsche Pervertierung des »Kainszeichens« unter: Die Zeichen, die in der Form des gelben Sterns den Jüdinnen und Juden angeheftet wurden, bedeuteten zwar auch den Tod, schützten aber nicht vor ihm. Ohne eine Reflexion auf die Welt von und nach Auschwitz, in der die Schrift zum Schriftkult wurde, fehlt die materialistische Grundlage, die eine »Kritische Theorie der Schrift« zu liefern hätte.

Dieser Schwäche von Türckes Buch steht eine brillante Kritik der Schrifttheorien von Jacques Derrida und Gilles Deleuze sowie des in der Genforschung sich ausdrückenden Schriftverständnisses gegenüber. Deleuzes Angriff auf die abendländische Metaphysik vollzieht sich als Kritik an den logischen Dualismen von Geist und Natur, Subjekt und Objekt etc. Eine solche »binäre Logik« könne Differenz immer nur in Bezug auf die Identität denken, stattdessen müsse das Denken in ein »noch ungedachtes Neuland (…) der Differenz an sich selbst« vorstoßen. Nicht mehr in Gegensätzen, sondern »rhizomatisch«, nach allen Seiten zugleich wuchernd solle gedacht und geschrieben werden. Einerseits zeigt Türcke, dass Deleuzes Kritik sich selbst dualistisch vollzieht, andererseits sei das, worauf Deleuze hinaus möchte – Differenz, die sich nicht mehr unterscheidet –, nichts anderes als »Identität par excellence«. Die Differenz von Begriff und Sache, die für Platon noch galt, hebt Deleuze auf: »Dasselbe ist Schrift und dasjenige, was sie beschreibt.«

Noch ungestümer als Deleuze geht Derrida vor. Auch er suspendiert eine entscheidende Differenz, nämlich die zwischen Spur und Schrift. Sein Ziel ist es, zu einer ursprünglichen nicht-linearen Schrift zu gelangen, die durch 2 500 Jahre logozentrische Metaphysik überbaut worden sei. Er begreift den Prozess der Erinnerung als das Bahnen einer Spur durch das unwegsame Gelände des Geistes. Dieser Prozess wird als ein Einschreiben verstanden, als ein Einritzen von Bedeutungen in den Geist. So werde die Spur zur Schrift, zur Urschrift, die dem begrifflichen, d.h. logozentrischen Zugriff entzogen sei und von Derrida den Namen der différance erhält.

Vergessen wird dabei, dass zwar jede Schrift Spur, eben ein Rückstand ist, nicht aber jede Spur Schrift. Nur wo eine Bedeutung hinein- und herausgelesen wird, ist eine Spur Schrift. Die Urschrift soll sich jedoch ohne ein Subjekt, das allein dazu in der Lage wäre, eine Spur als Schrift zu lesen und zu hinterlassen, immer schon eingeschrieben haben. Zwar kann nicht gesagt werden, was die différance ist, aber Derrida unterstellt, »dass sie etwas ist – und nicht bloß ein leeres Wort«. So rückt sie an die Stelle des christlichen Schöpfergottes: »Die différance ist noch um eine Umdrehung mysteriöser als dieser Gott. Sie ist dasjenige, was übrig bleibt, wenn man vom Schöpfungsakt den Schöpfer und das Geschaffene abzieht und auch noch leugnet, dass das, was zurückbleibt, ein Schöpfungsakt sei.«

Schrift ist für die Denker des Poststrukturalismus zu einem Gegenstand von kultischem Charakter geworden, den sie aber aus sich selbst heraus und nicht aus dem von Türcke beschriebenen naturgeschichtlichen Entstehungszusammenhang erhalten haben soll. Was Deleuze und Derrida betreiben, ist darum, wie Türcke zeigt, nichts weiter als Ideologie.

Die moderne Genforschung schließlich begreift die in der DNA enthaltenen Erbinformationen als zu entschlüsselnden Code, der als »Sprache Gottes« in die menschliche Natur eingeschrieben worden sei. An ihr selbst soll sie etwas sein, das lediglich Produkt des menschlichen Geistes ist: Schrift. Als letzter Schritt der Remythologisierung wird das intentionslose genetische Material als göttlich aufgeladene Schrift begriffen. Nach Türcke ist zwar nicht zu bestreiten, dass Schrift einen sakralen Charakter habe. Dass aber überall dort Schrift vermutet wird, wo es sich entweder um Spuren oder um etwas zunächst Unverständliches wie die DNA handelt, sei eine Beseelung des Unbeseelten, eine Fetischisierung.

Dass Türcke diesen Zusammenhang zu erhellen versucht, rechtfertigt den Untertitel der »Kritischen Theorie der Schrift«. Unverständlich bleibt aber, warum gerade derjenige kritische Theoretiker, der sich umfang- und detailreich mit Schrift auseinandergesetzt hat, in dem Buch praktisch unerwähnt bleibt: Walter Benjamin. Schwerer wiegt jedoch der Verzicht der Reflexion auf den Zusammenhang des gesellschaftlichen Rückfalls in die Barbarei mit den gegenwärtigen ideologischen Produktionen des Schriftkults, obgleich die Kritik an der Postmoderne, die Tür­cke liefert, äußerst verdienstvoll ist und längst an der Zeit war.

Christoph Türcke, Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, Verlag C. H. Beck, München 2005, 247 Seiten, 24,90 Euro