Überall ist Völkerball

Der Begriff pueblo ist identitätsstiftend für die lateinamerikanische Linke. Doch auch populistische Regierungschefs benutzen ihn gerne. von nils brock und markus plate

Es ist vielleicht der Evergreen aller Protestslogans in Lateinamerika: »El pueblo unido ja­más será vencido« (Das geeinte Volk wird niemals besiegt werden). Mögen die sozialen Kämpfe noch so verschieden sein, in den Diskursen der lateinamerikanischen Linken ist die Idee einer Gemeinschaft nach wie vor populär.

Los pueblos, die Völker oder die indigenen Gemeinschaften, ob nun zum Beispiel Venezuelas, Lateinamerikas oder gleich der ganzen Welt, das mag bei aller Schwammigkeit durchaus ein identitätsstiftender Begriff sein, der die Zugehörigkeit verschiedener Gruppen zu einer großen übergeordneten Bewegung verspricht, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, sozialen Herkunft, politischen Forderungen oder sexuellen Orientierungen. Der Begriff pueblos deutet eine Gleichwertigkeit der verschiedenen Gruppen an, er soll zusammenschweißen und Einigkeit demonstrieren.

Den Singular el pueblo schlichtweg als »Volk« ins Deutsche zu übersetzen, birgt dagegen die Gefahr wenig hilfreicher Projektionen, die den unterschiedlichen Kontexten sozialer Kämpfe in Lateinamerika nicht gerecht werden. Das pueblo in Lateinamerika versteht sich gern als »gente humilde«, die bescheidenen Leute, bezeichnet also die unteren 80 Prozent, die unter einer korrupten Oligarchie leiden.

Ein Mythos, mit dem auch eine antiimperialistische Allianz der »Brüdervölker des Südens« legitimiert wird. »Im Kampf um die Einigkeit kann es an vielen Faktoren mangeln, aber es gibt einen grundsätzlichen, so essenziell wichtig wie Sauerstoff: die Völker«, verkündete der venezolanische Präsident Hugo Chávez bereits im vergangenen Jahr auf dem Bolivarianischen Kongress der Völker in Caracas.

Bei den Weltfestspielen der Jugend und der Studenten im August in Caracas offenbarten sich wie bereits zuvor auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre auch Risse im gepflegten Selbstverständnis. Linke Schwule, Lesben und Transgender mischen in den sozialen Bewegungen Lateinamerikas seit einigen Jahren kräftig mit. Ihr Verhältnis zu anderen linken »Volksteilen« ist dabei ebenso wenig entspannt wie die Stimmungslage innerhalb der bunten lesbisch-schwulen Welt. Das offenbarte ein äußerst gut besuchtes Seminar über Diskriminierung und Gewalt aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung.

Die Reaktionen auf die Mitarbeit von Schwulen und Lesben innerhalb der sozialen Bewegungen, vor allem in den Gewerkschaften, reichten von Unsicherheit bis zur offenen Ablehnung. In den nationalen Gründungsmythen versteht sich das pueblo als ausschließlich heterosexuell. Der Machismus innerhalb der lateinamerikanischen Linken sorge außerdem immer noch dafür, dass Frauen und Lesben einen schweren Stand in der Bewegung hätten. Innerhalb der schwulen Szene sähen sich Linke dagegen einer kapitalistischen und rassistischen Party­szene gegenüber, und innerhalb linker queerer Gruppen beklagen Lesben und Transgender die diskursive Dominanz der Schwulen.

Von Gemeinschaftsgefühl war da wenig zu spüren, stattdessen wurde thematisiert, was an Spannungen durch den Begriff pueblo gerne unter den Teppich gekehrt wird: dass es unterschiedliche Meinungen in den sozialen und linken Bewegungen gibt, dass die Diskriminierungsmechanismen der lateinamerikanischen Gesellschaften keineswegs vor diesen Bewegungen halt machen und dass man sich gern zum Anwalt des pueblo erklärt, ohne notwendigerweise eine Mehrheit des Volkes zu vertreten.

Auch die Humanistische Partei Chiles versuchte im Wahlkampf erneut, über die Anrufung des pueblo Mehrheiten zu finden: »Gegen den Volkswillen und hinter dem Rücken des Volkes haben die Regierungseliten die Ausbeutung unserer natürlichen Reichtümer ausländischen Unternehmen ausgeliefert«, hieß es in dem Aufruf zur Nationalversammlung. Ein solches Raster macht weitere klassen- oder schichtspezifische Analysen der Reichtumsverteilung natürlich obsolet. Mit dem linken Wahlbündnis Juntos Podemos (»Gemeinsam können wir«) konnte die Humanistische Partei letztlich dennoch nur sechs Prozent der Bevölkerung davon überzeugen, »das Schicksal des chilenischen Volkes wieder selbst in die Hand zu nehmen«.

Aber auch das Schicksal von Völkern, die keine unmittelbaren Nachbarn sind, wird in der latein­amerikanischen Linken gern aufgegriffen, allen voran das des palästinensischen. Auf der Internetseite der linken mexikanischen Zeitung El Machete wird regelmäßig das »zionistische Kolonialregime« verurteilt, das einzig und allein zur Unterdrückung der arabischen Völker geschaffen worden sei. Die Solidarisierung mit den Palästinensern wird nur selten infrage gestellt, sowohl Israel als auch die USA werden meist als monolithische Aggressoren dargestellt.

Im November brachten beim »Gipfel der Völker« im argentinischen Mar del Plata Teilnehmer der unterschiedlichen sozialen Gruppen in Diskussionsforen und auf der Straße ihren Unmut gegen­über dem lateinamerikanischen Freihandelsprojekt Alca, der Privatisierung staatlicher Unternehmen und natürlicher Ressourcen zum Ausdruck. Die Veranstaltung war jedoch auch eine Gelegenheit für den argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner, seine Volksnähe unter Beweis zu stellen. Deshalb war die argentinische Regierungspartei eifrig an den Vorbereitungen zu diesem Treffen beteiligt.

Denn Selbstbestimmungsrecht der Völker hin oder her, zumindest das gemeinsame Feindbild sollte klar sein. George W. Bush sei eben die Figur, die alle negativen Prozesse auf den Punkt bringt, meinte auch Nancy Gutiérrez vom Künsterkollektiv Etcetera. Entsetzt war sie dagegen darüber, wie argentinische Sicherheitskräfte während des Gipfels eine zweite spontane Demonstration gegen den Imperialismus zusammenprügelten. Dieses Vorgehen zeigt ihrer Meinung nach, dass der Begriff pueblo von den Mächtigen instrumentalisiert wird und während der Übergriffe wenig Volkssolidarität zu spüren war.

Der Vorwurf, dass Regierungsvertreter den Dienst am Volk vernachlässigen, wird auch in zwischenstaatlichen Streitereien erhoben. Das große mexikanische Volk habe nicht so einen Präsidenten wie Vicente Fox verdient, der sich als Schoßhündchen des Imperiums vor­führen lässt, polterte Chávez kurz nach dem Gipfeltreffen amerikanischer Staatsoberhäupter. Fox biss zurück und wertete die Attacke als Angriff auf die Würde des mexikanischen Volkes. Damit der Familienstreit der Brüdervölker nicht eskaliert, milderte der frühere venezolanische Botschafter Vladimir Villegas die zuvor geäußerte Kritik etwas ab: »Nicht das Hündchen ist der Feind des venzolanischen Volkes, sondern sein Herrchen.«