Adler im Greifflug

Der Dichter Marcel Broodthaers (1924–1976) ging in die Kunstszene, um zu sterben. von stefan ripplinger

Im April 1964 stellt die Brüsseler Galerie Saint-Laurent Werke eines bis dato völlig unbekannten Künstlers aus. Auf der Einladungskarte steht: »Auch ich habe mich gefragt, ob ich nicht ein paar Sachen verkloppen und Erfolg im Leben haben könnte. Schon seit geraumer Zeit bin ich zu gar nichts nutze und nun auch schon 40 Jahre alt … Endlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, etwas Heuchlerisches (quelque chose d’insincère) zu erfinden, und ich machte mich sogleich an die Arbeit. Nach drei Monaten zeigte ich meine Produktion Ph. Edouard Toussaint, dem Besitzer der Galerie Saint-Laurent. Aber das ist ja Kunst, sagte er, das stellte ich nur allzugern aus. Einverstanden, gab ich zurück. Sollte ich was verkaufen, kriegt er 30 Prozent. Das sind, wie’s aussieht, norma­le Bedingungen, wenn manche Galerien 75 Prozent nehmen. Was es ist? Genau genommen sind es Objekte. Marcel Broodt­haers.«

Vier Jahre später erscheint eine Platte, auf deren Cover in großen Lettern steht: »This is Howlin’ Wolf’s new album. He doesn’t like it. He didn’t like his electric guitar at first either.« Auch in jenen Jahren, als noch nicht jeder herbe Gedanke in Ironie mariniert wurde, hat man sowohl die Einladungskarte als auch das Plattencover für ironisch gehalten. Doch Howlin’ Wolf mag seine neue Platte wirklich nicht, und jeder einzelne Satz von Broodthaers sagt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Tatsächlich ist er 1964 vierzig geworden, tat­sächlich hat er zuvor, von einem kurzen Film abgesehen, keinen Beitrag zur Bildenden Kunst geleistet, tatsächlich hat er es in der Welt nicht weit gebracht. Als Buchhändler und Nachtwäch­ter, als Hilfsarbeiter und Journalist, als Museumsführer und Reportagefotograf hat er sich, seine Frauen und seine vier Kinder mit Müh und Not über Wasser gehalten. Zu allem Unglück dichtet er. Für seine ersten beiden Gedichtbändchen, »Mon Livre d’ogre« und »Minuit«, findet er noch Kleinverlage, das dritte (»La Bête noire«) und vierte (»Pense-Bête«) muss er bereits im Selbstverlag herausgeben.

Er verkauft so wenige von seinen Büchern, dass er die Restauflage von »Pense-Bête« (»Denk­zettel«) in seiner ersten Ausstellung oldenburgisieren, nämlich eingipsen kann. Etwa 50 der übrigens sehr schönen Bändchen stehen nebeneinander aufgereiht, deutlich ist der Abdruck des Gipsbechers zu erkennen, der gegen sie geklatscht worden ist. Seine erste Kunstausstellung gipfelt also in der Zerstörung seiner Arbeit als Dichter. Kein Besucher hat das bemerkt, keiner, so klagt er später, habe auch nur versucht zu lesen, was unlesbar gemacht worden ist.

Zu alt, um noch Illusionen zu hegen, hält er sich nicht lange mit solchen Klagen auf. Nach Résistance und Krieg hat er als junger Bohemien die von René Magritte angeführten belgischen Surrealisten kennen gelernt, ihr Manifest unterzeichnet, aber sich bald wieder von ihnen entfremdet, weil er länger an der Kommunistischen Partei festhält, als sie es für opportun halten. Er kennt aus seinen Museumsführungen und aus seiner journalistischen Arbeit die Mechanismen des Kunstbetriebs genau.

Er tritt 1964 sehenden Auges in die Kunst ein, mit wahren Sätzen, und weiß doch, dass sie in einem »System von Lügen« zu falschen werden müssen. Er weiß überhaupt viel zu viel. »Die einzige Möglichkeit für mich, ein Künstler zu sein, ist vielleicht, ein Lügner zu sein.« Es ist dafür gar nicht nötig, wie alle andern zu bluffen. In der Kunst erreichen Briefe niemals ihren Empfänger. Warum also nicht die Kritiker als Koofmichs, die Sammler als Tröpfe und sich selbst als einen Scharlatan und eitlen Raben hinstellen? Solange es nach Kunst aussieht, wird es niemand persönlich nehmen. Mit einem Mal stehen ihm die Salons, vor allem in Deutschland, offen. Er stellt auf der Documenta aus, gibt Interviews, lässt es sich gefallen, je nach Konjunkturlage, mal als Nouveau Réaliste, mal als Pop­künstler angepriesen zu werden, obwohl er weder das eine noch das andere ist. Er ermuntert einen Sammler, ein Objekt zu kaufen und auf der Stelle zu zerstören, orakelt in Offenen Briefen, solidarisiert sich mit den 68ern, um sich zwei Wochen später zu ent­solidarisieren, und hört nicht auf, vor sich selbst zu warnen.

Auf einer seiner Einladungskarten spottet er: »Wie kam ich zu meinem Erfolg? Ganz einfach. Ich bin den Spuren im Sand der Kunst gefolgt, die René Magritte und Marcel Duchamp hinterlassen haben, und den ganz frischen von George Segal, Roy Lichtenstein und Claes Oldenburg. Getreulich folg­te ich ihnen, auch wenn die Winde weh­ten.« Was für einen Sand der Kunst er meint, hat er weniger blumig am Ende seines Lebens ergänzt: »Ich ha­be immer den Eindruck gehabt, eine Wüs­te zu durchqueren.« In dieser Öde spielt er von nun an »die Rolle des bildenden Künstlers« (Rainer Borgemeister). Statt Bildern verkauft er Rahmen, Hinweisschilder, Hüllen. »Was ist ein Original? / Ein Ei ohne Schal’«, reimte Paul Scheerbart, also muss Broodthaers Eier- und Muschelschalen zeigen. Schließlich eröffnet er ein Museum, das nur sich selbst ausstellt. Das wäre der Werdegang eines ziemlich durchtriebenen Opportunisten und weiter nicht bemerkenswert, führte dieser nicht im Namen der Kunst einen subtilen Rachefeldzug gegen sie, zielte er nicht auf eine art to end all art.

In einem seiner tragikomischen Filme (»La Pluie (projet pour un texte)«) ist er zu sehen, wie er im strömenden Regen etwas aufzuschreiben versucht, doch die Tropfen waschen die Tinte vom Blatt. Weil niemand in den Betrieb gehen sollte, der noch an etwas hängt, hat er, um Künstler zu werden, den Dichter ausgelöscht. Als Künstler löscht er nach und nach die Kunst aus, angefangen mit der Signatur, deren Macht, aus einem Nichts einen Wert zu schöpfen, ihn von jeher fasziniert hat. Broodthaers stellt Tafeln und Postamente her, die mit seiner einzeln dastehenden oder in langen Reihen wiederholten Signatur »M.B.« gezeichnet, geradezu überzeichnet sind, er dreht einen Film, der genau eine Sekunde lang seine Paraphe zeigt und den er »Die Signatur (eine Sekunde der Ewig­keit)« nennt.

Dass Kunst einen bleibenden Wert oder wenigstens einen Spekulationswert darstellt, verhöhnt er mit der denk­würdigsten Aktion, seit der andere Mar­cel im Jahr 1919 seinen Zahnarzt mit einem gemalten Wechsel bezahlt hat. Broodthaers kauft einen Goldbarren, lässt den Stempel seines fiktiven Museums einprägen und bietet ihn als Kunst­werk zum Doppelten des Tagespreises an. Bereits 1966 hat er Banknoten zu Gutscheinen für seine Muschelschalen-Objekte umgewidmet.

In seiner sanften Zerstörungsarbeit bedenkt er nacheinander alle Institu­tionen der Kunst: Einladungskarte, Prä­sentationstafel, Signatur, Katalog (»Trac­tatus logico-catalogicus«, 1972) und schließlich Ausstellung samt Eröffnung und Vortragsabend. Sein sich rasch in viele Sektionen verzweigendes Adlermuseum bleibt bloße Behauptung, auch wenn er bei einem Gastspiel echte Schinken hängen lässt, die er sich aus dem Düsseldorfer Kunstmuseum leiht. Solche Valentinaden haben nichts gemein mit den Späßen jener enfants terribles der Kunst, deren Rolle es ist, aus der Rolle zu fallen, und die von ihren ­Eklats auf dem Chalet eines Sammlers mit Sinn fürs Grobe entspannen. Broodthaers ist niemals grob, mehr noch, er be­weist eine keusche Verehrung für das Schöne, indem er es bewusst heraushält, ja es ausstreicht.

Der Greifflug des Adlers mag das illustrieren. 25 Jahre bevor er zum Symbol des inszenierten Museums wird, taucht er in einem Gedicht des jungen Brood­thaers auf: »O Tristesse envol de canards sauvages / Vol d’oiseaux au grenier des forêts / O Mélancholie aigre château des aigles« (O Trauer, Aufflug der Wildenten / Flug der Vögel zur Kornkammer der Wälder / O Melancholie, arges Schloss der Adler). Einige Gedichte aus den Fünfzigern zeichnet er dann auch mit »Château d’If«; das ist das Schloss, in dem der Graf von Monte Christo schmachtet.

Der Adler ist also von Anfang an Figur in einer Welt voller Figuren und romantischer Pappwände. Dass er nun einem leeren Museum präsidiert und wenig später in einer den Adlern gewidmeten Ausstellung sich auf Wappen und Bieretiketten spreizt, scheint folgerichtig. Doch erst am Ende weist sich, wo der Raubvogel landet: In »Cahiers« (1972) schneidet Broodthaers den Bundesadler akkurat aus 100-Mark-Scheinen, steckt die adlerlosen Geldnoten in Umschläge, die er an die Deutsche Bundesbank adressiert. Wenn er sagt, es sei nicht seriös, über Kunst zu sprechen, »ohne dieses Ewiggleiche, nämlich die Verwandlung von Kunst in eine Ware, ganz zu durchmessen«, wird deutlich, was sein Weg war. Er durchmisst diese fatale Verwandlung, die aber nicht das Geld- und Gleichgültigwerden irgendeiner, sondern seiner Kunst ist, seiner Gedichte und der Gedichte, die er liebt. Sie streicht er aus.

1947 hat ihm René Magritte den »Coup de dés« (Würfelwurf) von Stéphane Mallarmé geschenkt. Dieses Büchlein und Magrittes »Verrat der Bilder« sind die beiden Werke, die ihn sein Leben lang beschäftigen. In Dutzenden seiner Zeichnungen, Installationen, Filme hat sich Broodthaers mit ihnen auseinandergesetzt. Hommage und Persiflage lassen sich dabei nicht immer klar unterscheiden.

Sowohl am »Verrat der Bilder«, der Pfeife mit der »Scheidungsformel« (Borgemeister) »Ceci n’est pas une pipe«, als auch an Mallarmé zieht ihn an, dass Bild und Wort, Wort und Bedeutung auf immer getrennt sind. In einem der ersten separaten Ausgabe des »Wür­felwurfs« (1914) genau nachgebildeten Buch hat Broodthaers die mal fett, mal mager auf die Druckseiten ausgreifenden Zeilen von Mallarmés Prosagedicht mit schwarzen Balken abgedeckt. Der verhinderte Leser steht vor dem Skelett des Textes, einem »Bild« von ihm, das aber nichts zeigt. Broodthaers sieht Mallarmé an der »Quelle der Moderne« und hält ihn für den »Erfinder des modernen Raums«. Diesen Raum, der ohnehin einem Vakuum verdächtig ähnelt, hat er versiegelt und damit seine Frage, »ob die Kunst anders und anderswo existiert als auf der Ebene der Negation«, verneint.

Auch seine Magritte- und Mallarmé-Bearbeitungen führen ihn nicht allzu weit ab von seinem Lebens­thema, dem Untergang der Kunst in der Kunstszene; und aus »Dies ist keine Pfeife« wird bei ihm »Dies ist kein Kunstwerk«. Der kapitalistische Kunstbetrieb ist der Ort, an dem Kunst gerade nicht begegnen kann; im Zentrum der Ästhetik seit Mallarmé aber steht der Un-Ort, das nicht geschriebene Buch, das sich selbst aufhebende Werk. Hier wie da eine Unmöglichkeit, hier wie da eine Auslöschung. So konnte Maurice Blanchot das von den Konservativen beklagte Ende der Kunst nahtlos in seine Ästhetik fügen. Lesbares für Nicht-Leser, Unlesbares für Leser, der Unterschied verliert sich. Was ausgetauscht wer­den kann, wird Ware, eine Transformation, die schon Mallarmé erfasst hat: »Um das menschliche Denken auszutauschen, genügte es für einen jeden, in die Hand des andern stumm ein Geldstück zu legen oder es aus ihr zu empfangen« (»Crise de vers«).

In Marcel Broodthaers aber bestaunen wir vielleicht den einzigen Künstler des dialektischen Materialismus. Weder gehört er zu den politischen Romantikern, für die die Kunst Werkzeug oder Waffe ist, mit denen die Fundamente des Kapitalismus freigelegt oder aufgesprengt werden könnten. Denn Kunst ist weder Labor noch Waffenkammer und der Künst­ler kein Ausnahmemensch, sie bleibt ein Markt und er ein Warenproduzent. Broodthaers macht es sich auch nicht so leicht wie jene kritischen Künstler, die den Kunstbetrieb zwar reflektieren, aber sich qua Reflexion außerhalb wähnen. »Ich glaube nicht mehr an das Klischee der Antikunst«, sagt er am Anfang seiner kurzen Karriere. Und als ihm an deren Ende ein Interviewer fragt, ob er »engagierte Kunst gemacht« habe, antwortet er: »Vorher. Und das waren Gedichte, konkrete Zeichen von Engagement, weil ohne Lohn. Meine Arbeit bestand also darin, davon so wenige wie möglich zu schreiben. Mit der bildenden Kunst konnte ich mich nur bei meinen Widersachern engagieren.«

Mit der Welt sei der Künstler nur in seiner »schwarzen Periode« quitt, wenn alle ihn vor die Tür setzten. Broodthaers’ schwar­ze Periode ist seine Zeit als Dichter und Bohemien. Er beendet sie, indem er zeigt, dass er nicht nur die Rezepte des Erfolgs, sondern auch dessen Preis kennt. Der Preis, den er selbst gezahlt hat, besteht nicht nur darin, dass er seine Dichtung zerstört. Gewiss lässt sich mit Catherine David sagen, dass auch »der Ex-Dichter, der sich seine künstle­ri­sche Produktion abhandeln lässt« (Alain Jouffroy), eine mal heroisch, mal ironisch akzentuierte Rolle gewesen sei. Dass aber auf dem Markt selbst das Fanal zur Figur und noch der Verächter zur Rolle und Charaktermaske werden muss, bestätigt nur aufs Glänzendste, was dieser Mann gesehen und verlacht hat. Broodthaers erliegt am 28. Januar 1976, seinem 52. Geburtstag, den Folgen einer chro­nischen Hepatitis.

Auch was sein Sterben angeht, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, er hätte darüber mehr gewusst, als einem gewöhnlichen Menschen bekömmlich ist. Bereits 1970 veröffentlicht er Bulletins und Gegenbulletins seiner Ärzte. Vor seinem Tod thematisiert er immerzu die Zahl zwölf, die, vermutet Dorothea Zwirner, für seine Jahre in der Kunstszene steht. Und lange vorher schon nimmt er das Ende vorweg.

Man müsste sich Augen und Ohren zuhalten, um in »Adieu, Police« – adieu, ihr Bullen, adieu, Ordnung der Dinge –, seinem 1954 veröffentlichten Gedicht über die Karriere eines Verbrechers, kein Selbstporträt zu erkennen. Hier ist der Dichter, der Spieler, der Scheiternde, und er setzt sich selbst zusammen aus Stücken von Abenteuerromanen, Chansons, Legenden und schwarzer Romantik: »Ich wollte Orgelspieler sein / in der Armee des Schweigens, / stattdessen spielte ich ›Himmel und Hölle‹ / auf dem rosigen Rieseln des Blutes. / Mein Schiff ging vor Anker und dann unter / und seine schmutzigen Planken loderten / am Grunde der Gewässer. / Also ha­be ich gezockt / und, nach Kater um Ka­ter, / ge­langte ich in die schwarze Periode. // Ich wurde zum Schreckgespenst des Handels. // Das Meer nahm mich wieder auf / unter den Überresten ersoffner Fürsten, / nachdem ich mich mit den Seehunden befreundete. // Danach pokerte ich hoch / und eilte von dannen, / verbrannte meine Bücher und die Freundschaft / im Rachen des Vergessens. / Und ich wurde, der Verbrechen / von Feldwebeln und von Blaubarten spot­tend, / zu Fantomas. / Angetan mit Wasser und mit Krieg / bin ich groß geworden unter dem Himmel von Paris.«

Über M. B.: Catherine David / Véronique Dabin, Hg.: »M.B.«, Katalog, Paris 1991.

»Interviews und Dialoge 1946–1976«, Köln 1994.

Dorothea Zwirner: »M.B. Die Bilder die Worte die Dinge«, Köln 1997.

Benjamin D. Buchloh: »M.B. Open Letters, Industrial Poems«, in ders.: »Neo-Avantgarde And Culture Industry«, Cambridge, London 2000.

Rainer Borgemeister: »M.B. Lesen und Sehen«, Bonn und Berlin 2003