Eine Menge in Bewegung

Der Konflikt zwischen sozialen Bewegungen und alter Oligarchie brachte Bolivien an den Rand des Zusammenbruchs. Der neue Präsident Evo Morales könnte das Land wieder zusammenführen. von benjamin beutler, la paz

Ein anderes Bolivien ist möglich«, skandieren die Aktivisten der »Bolivianischen Bewegung gegen den TLC und Alca« auf ihren Demonstrationen in El Alto. Die riesige Siedlung am Rande der Hauptstadt La Paz ist ein Zentrum des sozialen Protests. In Anlehnung an das Motto des Welt­sozialforums machen die Händler und Kleinproduzenten Front gegen den Vertrag für freien Handel der Andenländer (TLC) und die amerikanische Freihandelszone Alca.

Ebenso wie die anderen sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich im Dachverband »Kontinentale Sozialallianz« zusammengeschlossen haben, fordert sie »gerechte« Handelsregeln sowie Maßnahmen zum Schutz der bolivianischen Produzenten vor billigen Importen. Seit dem »Wasserkrieg« von Cochabamba, als im Jahr 2000 Massenproteste die Privatisierung der Wasserversorgung verhinderten, sind in Bolivien die sozialen Bewegungen im Aufwind.

Dieser Erfolg gilt als Paradebeispiel dafür, dass man mit einem entschlossenen und massenhaften Handeln die Privatisierung öffentlicher Betriebe verhindern kann, die weltweit auf der Tagesordnung steht. In Cochabamba ist nun ein kommunaler Betrieb für die Wasserversorgung zuständig, der von einem gewählten Komitee geführt wird. »Viele Menschen haben keine Ahnung, wo Bolivien liegt, aber sie kennen Cochabamba und wissen, dass hier der ›Wasserkrieg‹ stattfand«, sagt stolz Oscar Oliveira, der Pressesprecher der »Koordination zur Verteidigung des Wassers und des Lebens in Co­cha­bam­ba«.

Dieses Gefühl des Stolzes ist nicht nur den Aktivisten des »Wasserkrieges« zu eigen, es ist der emotionale Grundton der sozialen Bewegungen Boliviens. Ihnen gelangen mehr als spektakuläre Einzelerfolge. Im Oktober 2003 zwangen sie mit Massendemonstrationen und Straßenblockaden den Präsidenten Sánchez de Lozada zum Rücktritt. Auch der Einsatz von Militär und Polizei, der mindestens 60 Menschen das Leben kostete, konnte ihn nicht retten. Ausgelöst wurde der Aufstand von dem Plan, Chile als Transitland für den Export des bolivianischen Erdgases zu benutzen.

Lozadas Stellvertreter Carlos Mesa, der die Amtsgeschäfte daraufhin übernommen hatte, trat im Juni vergangenen Jahres zurück. Auch er war ständigen Protesten ausgesetzt. Seine Nachfolge übernahm Eduardo Rodriguez, der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, dessen wichtigste Aufgabe es war, die Neuwahlen zu organisieren.

In dieser Situation trat das ganze Ausmaß der bolivianischen Staatskrise zu Tage. Das System der demokratischen Repräsentation war nicht mehr dazu in der Lage, die politische Entwicklung zu kontrollieren und zu kanalisieren, während die etablierten politischen Kräfte sich als unfähig erwiesen, die außerparlamentarische Opposition zu integrieren.

Der Staatsapparat reagierte inkompetent, ignorant oder gewalttätig auf die dringenden Probleme der Menschen, die nach mehr Mitbestimmung, Gleichheit und der Befriedigung ihrer alltäglichen Bedürfnisse drängten. In dem Maße, in dem der Staat und seine Vertreter an Legitimität verloren, gewannen die sozialen Bewegungen an Bedeutung. Zuletzt waren sie einflussreich genug, um Präsidenten stürzen zu können.

Die »Politik der Straße«, schreiben Fernando Calderón und Alicia Szmukler in ihrem gleichnamigen Buch, ersetzte mehr und mehr die bis dahin gängigen Formen der Politik: direkte Aktionen und außerparlamentarische Protestformen wie Hungerstreiks, Märsche, Straßenblockaden, Landbesetzungen und Streiks. Der alte Staat und die mit ihm eng verbundene Oligarchie stand dem hilflos, geradezu paralysiert gegenüber. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch die anhaltende schwere Wirt­schafts­krise. Das reiche Unternehmertum im Osten des Landes erwog sezes­sionistische Pläne; kurz: Bolivien drohte zu zerfallen.

Diese Krise scheint mit der Wahl von Evo Morales vorerst beendet. Doch das Verhältnis der sozialen Bewegungen zu seiner Partei, der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS), ist instabil, obwohl sie vor sechs Jahren selbst aus verschiedenen sozialen Bewegungen hervorging. Morales’ Wahlsieg sei der »Reflex der sozialen Kämpfe, die sich gegen das neoliberale System stellten«, sagen die Vertreter der Basisinitiativen von El Alto.

Auch wenn sie sich für Königsmacher halten, wollen sie im MAS und in Morales nur politische Instrumente sehen. Sie streben keine politischen Ämter an, wie sie in ihrem »Manifest der Koordination zur Verteidigung des Wassers und des Lebens« festgehalten haben, sondern bevorzugen die »direkte Aktion«. Andere Gruppierungen suchen aber sehr wohl die Nähe zum MAS; die Versuchung der Macht ist groß. Auch Morales muss diese Kontakte pflegen, weil er angewiesen ist auf sein Image als jemand, der es von ganz unten nach oben geschafft hat, als »Kämpfer von der Straße«.

Wie selbstbewusst derzeit die sozialen Bewegungen Boliviens sind, zeigt ihr Ultimatum an den künftigen Präsidenten. Innerhalb von 90 Tagen soll er die Gas- und Erdölvorkommen verstaatlichen, eine Verfassunggebende Versammlung einberufen, eine Agrarreform durchführen und Gerichtsverfahren gegen Lozada und andere für die staatliche Gewalt­anwendung Verantwortliche einleiten.

Man werde der neuen Regierung gegenüber nicht unverantwortlich handeln, beteuert jedoch Edgar Patana, der Vorsitzende der einflussreichen Gewerkschaft Regionale Arbeiterzentrale und einer der Verfasser des Ultimatums. Die Bewegung werde nicht »blind« reagieren, falls Morales dem Ultimatum nicht nachkommen sollte. Zugleich warnt er Morales davor, diese Erwartungen zu enttäuschen. Und Rodolfo Mancilla von der »Vereinigung der Gremien von El Alto« sagt: »Der neue Präsident sollte seine Arbeit der Bekämpfung der Armut und der Korruption widmen.«

»Die Gesellschaft schafft sich andere Mechanismen der Repräsentation und politischen Aktion, nämlich die sozialen Bewegungen«, sagte García Linera, der künftige stellvertretende Staatspräsident und Vordenker des MAS. Im Wahlkampf kündigte er aber auch an: »Wir haben die radikalen leader isoliert und mit den sozialen Bewegungen Abkommen getroffen, aber im Fall des Scheiterns wird die Autorität des Staates sich durchsetzen müssen.« Morales muss einen »New Deal« jedoch auch mit der anderen Seite aushandeln. Denn die alte Oligarchie und die internationalen Unternehmen werden nicht ohne weiteres gewillt sein, ihre Privilegien aufzugeben.