Machtträume im Weltsalon

Am Weltsozialforum in der kommenden Woche in Caracas dürfen erstmals Regierungspolitiker teilnehmen. Einflussreiche Globalisierungskritiker wollen nun konkrete Alternativen formulieren. von wolf-dieter vogel, caracas

Die Reise ins Zentrum der anderen Welt ist mühsam. Starke Regenfälle haben ein Viadukt zerstört, das den örtlichen Flughafen Maiquetía mit Caracas verbindet. Bis zu fünf Stunden kämp­fen sich die Busse nun durch die alten Straßen, um die Anreisenden in die venezolanische Hauptstadt zu bringen. Fahrdienste müssen bereitgestellt werden, um den vielen Gästen unnötigen Ärger zu ersparen. »Wir kämpfen gegen jeden Versuch der Taxifahrer, die Preise spekulativ in die Höhe zu treiben«, erklärt Jacobo Torres programmatisch. Torres ist einer der Koordinatoren des 6. Weltsozialforums (WSF), dessen lateinamerikanischer Teil diese Woche in Caracas stattfindet.

Das internationale Treffen der Globalisierungskritiker ist wieder zum organisatorischen Gewaltakt geworden, und das nicht nur wegen einer eingestürzten Brücke: Tausende von Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Jugendcamps »Weltstadt« müssen in den Parks untergebracht werden, rund 100 000 Aktivisten aus ganz Lateinamerika brauchen Schlafplätze, Essen sowie Räume für Diskussionen, Workshops und Filmvorführungen. Auch die Anfahrt auf dem Landweg will koordiniert sein. Ziemlich viele Menschen kommen in Karawanen aus Peru, Bolivien oder Kolumbien, um sich an den rund 2 000 geplanten Veranstaltungen des WSF zu beteiligen.

Auf dem Programm steht so ziemlich alles, was Linke bewegt: »Imperiale Strategien und Widerstand der Völker«, »Genderidentitäten und sexuelle Diversität«, »Arbeit, Ausbeutung und Reproduktion«, »Kommunikation, Kultur und Bildung«, »Der Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus«.

Doch die Leitung des WSF, ein internationaler Rat aus weltweit rund 160 Organisationen, geht dieses Jahr auch neue Wege. Wurde das Forum bislang immer an einem Ort ausgetragen, so findet es dieses Jahr auf drei Kontinenten statt: in Mali, Pakistan und Venezuela. So soll eine gleichberechtigtere Beteiligung sozialer und ökologischer Bewegungen, Gewerkschafter, indigener Gruppen sowie Bauernorganisationen aus allen Weltregionen gewährleistet werden.

Dass der lateinamerikanische Teil des Polit-Happenings in Venezuela stattfindet, ist kein Zufall. Präsident Hugo Chávez hat sich als Kopf der so genannten bolivarianischen Revolution einen guten Namen in der Bewegung gemacht. Seine Unterstützung von Gesundheits- und Bildungs­projekten, Stadtteilinitiativen oder Basis­medien­pro­jek­ten kommt in der Linken an, und auch seine ständige Polemik gegen die US-Regierung findet offene Ohren.

Von den antiimperialistischen Avancen des Staatschefs an »die Völker der Welt« dürften sich zudem viele der anreisenden Gruppen angesprochen fühlen. Bereits seit Jahren sucht der linke Populist Kontakt zum WSF. Er besuchte mehrere Treffen im brasilianischen Porto Alegre, wurde dort aber immer auf Veranstaltungsräume außerhalb des WSF verwiesen. Schließlich wollte man auf dem Sozialforum keine Regierungspolitiker haben. Das ist in diesem Jahr anders: Auf einer zentralen Veranstaltung spricht neben Vertretern der brasilianischen Landlosenbewegung MST und anderer Bauernorganisationen auch Präsident Chávez.

Einflussreiche Kräfte des globalisierungskritischen Spektrums sehen darin heute kein Problem mehr. Im Gegenteil. Venezuela sei das einzige Land Lateinamerikas, »wo es große Fortschritte auf sozialem Gebiet gibt«, erklärt der brasilianische Soziologe Emir Sader. Die Übereinstimmung der globalisierungskritischen Bewegung mit dem Regierungschef werde mit dem WSF in Caracas noch wachsen, meint Sader und gibt gleich die Richtung vor: »Nicht Chávez, sondern das Weltsozialforum hat das Problem, seine Alternative zu formulieren.«

Tatsächlich hat sich angesichts des pluralistischen Sammelsuriums an Organisationen, Themen und Meinungen unter den ideologischen Köpfen des WSF Skepsis breit gemacht. Es bestehe die Gefahr, dass das Forum zur »folkloristischen Veranstaltung verkommt, zu einer internationalen Messe der Bürgerinitiativen, einem Weltsalon der Zivilgesellschaft«, schreibt Ignacio Ramonet, Herausgeber von Le Monde Diplomatique. In den ersten Jahren habe man klargestellt, dass das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verkündete »Ende der Geschichte« nicht erreicht sei, ergänzt WSF-Gründungsmitglied Antonio Martins. »In der zweiten Phase wiesen wir auf Möglichkeiten des Widerstands« hin. Nun sei es notwendig, »konkrete Alternativen anzuschieben, die um Machträume kämpfen und vielen Leuten zeigen, dass man sich anders organisieren kann«.

In welchem Verhältnis steht diese »andere« Art der Organisierung zur realen Regierungsmacht? Kann es eine emanzipative Politik »von oben« überhaupt geben? Diese Fragen stehen in Caracas im Vordergrund. Nicht nur, weil das Sozialforum im Land der bolivarianischen Revolution stattfindet. Soziale, gewerkschaftliche und indigene Bewegungen haben in Lateinamerika an Stärke gewonnen. In der Folge konnten sich in vielen Staaten linke oder gemäßigt linke Regierungen etablieren.

Das schürt Hoffnung und erzeugt zugleich große Frustration. So steht der brasilianische Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva etwa bei der Landlosenbewegung MST u.a. in der Kritik, weil er die liberale Wirtschaftspolitik seines Vorgängers fortgesetzt und kaum Fortschritte bei der Land­re­form vorzuweisen habe. Dennoch kündigte auch die Regierung Lulas an, mit einem großen Tross an Ministern nach Caracas zu reisen. Das staatliche brasilianische Unternehmen Petrobras will nach Angaben der Nachrichtenagentur Pulsar Veranstaltungen über »Wasser, soziale Technologien und Rechte von Kindern und Jugendlichen« anbieten.

Der MST zählt zu den wichtigsten Kräften des lateinamerikanischen WSF-Spektrums, und die Landlosen begleiten Lulas Politik in einer Art »kritischer Solidarität«. Anders die Zapatisten, die dieses Jahr zum ersten Mal auf dem Sozialforum erwartet werden. Die indigenen Rebellen und Rebellinnen aus dem südmexikanischen Bundesstaat Chiapas haben dem gemäßigt linken PRD in Mexiko eine eindeutige Absage erteilt. »Wir stellen uns gegen die gesamte politische Klasse«, stellte der Sprecher Subcomandante Marcos klar.

Ähnlich sehen es auch die meist anarchistischen Veranstalter eines Alternativen Sozialforums »gegen Kapitalismus und Autoritarismus«, das zeitgleich zum WSF in Caracas stattfindet. Nach den Erfahrungen mit anderen linken Großveranstaltungen wie den 16. Weltjugendfestspielen, die im bolivarianischen Venezuela stattfanden, kommen sie zu einer pessimistischen Schlussfolgerung: »Das Weltsozialforum wird kein pluralistisches, selbstbestimmtes, unabhängiges, offenes und unbeeinflusstes Treffen sein, wie es in dessen Erklärungen proklamiert wird.«

Die Befürchtung ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Immerhin stellt die Chávez-Regierung neun Millionen Dollar für das WSF zur Verfügung, und die etwa 3 000 Helfer und Helferinnen rekrutieren sich im wesentlichen aus Organisationen, die der bolivarianischen Revolution nahe stehen. Auch im Ausland gibt man eindeutige Zeichen. So fand das Vorbereitungstreffen der mexikanischen WSF-Delegation in der venezolanischen Botschaft statt. WSF-Koordinator Torres ist sich trotzdem sicher: »Wir halten uns an die Regeln, dies wird kein Treffen der Chávistas.«