Solidarisches Kartell

Die linken Regierungen Südamerikas rücken zusammen mit dem Ziel größerer regionaler Autonomie gegenüber den USA und der Stärkung des Staatsapparats. von simón ramírez voltaire

Die Nachricht kam rechtzeitig zum Weltsozialforum in Caracas: Argentinien, Brasilien und Venezuela haben den Bau eines Gasversorgungssystems für ganz Südamerika beschlossen. »Das ist das Ende des Washingtoner und der Beginn des südamerikanischen Konsenses«, kommentierte Hugo Chávez diesen Beschluss. Der venezolanische Präsident ist damit dem Ziel eines integrierten Südamerika um einen Schritt näher gekommen. Es dürfte seine Anhänger auf dem Weltsozialforum freuen. Und sie haben neben dem beschlossenen Bau der Südamerika-Pipeline noch mehr Anlass zum Feiern: Mit dem Indio-Präsidenten Evo Morales in Bolivien und der künftigen Präsidentin Chiles, Michelle Bachelet, haben die Wähler jüngst nicht nur Angehörige gesellschaftlicher Gruppen an die Macht gebracht, die bisher vom Regieren weitgehend ausgeschlossen waren. Beide Präsidentschaftswahlen verstärken den südamerikanischen Trend nach links.

Kaum jemand zwischen der Karibik und Feuerland kann heute noch ernsthaft Wahlkampf machen mit Forderungen nach Privatisierung, Weltmarktöffnung und Staatsabbau. Auf dem Subkontinent verbreitet sich die Überzeugung, dass die Rezepte der »neoliberalen Dekade« die Armut immens steigerten und nicht viel mehr waren als ein Weg für korrupte Politiker, gemeinsam mit Investoren Geld zu scheffeln. Im Post-Neoliberalismus wird der Ruf nach einem eingreifenden und wieder mehr Verantwortung übernehmenden Staat lauter. Die südamerikanischen Staatschefs – Chávez, Kirchner, Lula, Morales, Vázquez und künftig Bachelet – mögen in Ideologie und politischer Praxis sehr unterschiedlich sein. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in einer Zeit ins Amt getragen wurden, in der die Verteilung des Reichtums und die Rolle des Staats plötzlich wieder auf der Tagesordnung steht – nach Jahren, in denen Linkssein und der Begriff der sozialen Gerechtigkeit in der Tiefe des Unsagbaren versunken waren.

Eine bemerkenswerte Kapriole der Geschichte ist, dass dabei ausgerechnet Kuba wieder mit am Tisch sitzt. Nach den Regierungs-, Finanz- und Korruptionskrisen der letzten Jahre erscheint die Insel wieder als stabile Bezugsgröße. Kuba hat sich während des jahrzehntelangen Wirtschaftsboykotts zum »Low-Tech«-Meister gemacht – und passte seine Technologie, aber auch die Gesundheits- und Bildungspolitik den minimalen Mitteln an. Den Nachbarn offeriert Kuba jetzt seine Dienste. Und für Regierungen in Brasilia, Caracas und künftig in La Paz ist es inzwischen weniger verwerflich, mit Kuba gute Beziehungen zu unterhalten, Castros Rat einzuholen und sich vom kubanischen Entwicklungsstil etwas abzugucken. So unterzeichneten Castro und Morales noch vor dessen Amtseinführung ein Abkommen. Es sieht vor, dass Kuba 5 000 Bolivianer zu Ärzten ausbilden und die Alphabetisierung der Bevölkerung unterstützen soll. Auch zwischen Kuba und Venezuela gibt es ähnliche Kooperationsabkommen, von denen beide Länder profitieren. Es ist zudem eine Werbebotschaft, die auf ganz Lateinamerika zielt. Sie sagt: Es geht auch solidarisch.

Ob die verstärkte südamerikanische Kooperation bei Öl und Gas ein Ausdruck von Solidarität oder das Fundament eines neuen Kartells ist, bleibt dahingestellt. Den Pilgern in Caracas dürfte sie als materielle Grundlage eines sozialen und vereinten Südamerika gelten.

Auch das in der Region operierende Kapital hat im letzten Jahr die neue Stimmung, die in Südamerika herrscht, bereits zu spüren bekommen. So haben die spanischen Energiekonzerne die Notwendigkeit erkannt, sich auf die veränderten Bedingungen einzulassen. Diese bedeuten für sie zwar keine Enteignungen, aber eine Menge neuer Regeln, die auf niedrigere Gewinne hinauslaufen. Dabei zeichnet sich ab, dass künftig der Staat mehr Anteile an den Unternehmen haben soll, wie in Venezuela, oder die Regierung in die Preise eingreift, wie in Argentinien. Auch in Ecuador werden die Verträge zwischen dem Staatsbetrieb Petroecuador und ausländischen Investoren einer Revision unterzogen und sollen geändert werden. Ähnliches ist in Bolivien zu erwarten. Für Peru sehen das Analytiker ebenfalls voraus, falls der Chávez nahe stehende Ollanta Humala die diesjährigen Wahlen gewinnt.

Zwar treten die Präsidenten stets mit der Intention an, Politik für die Verarmten und Ausgeschlossenen zu machen, das reale Verhältnis zur Basis ist in den einzelnen Ländern jedoch sehr verschieden. Unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie werden deutlich.

Beispiele hierfür sind Venezuela und Bolivien: Die venezolanische Regierung verfügt wegen der staatlichen Eröleinnahmen über viel Geld und eine starke Administration. Sie ist in der Lage, populäre Großprojekte wie Alphabetisierung, medizinische Versorgung und Lebensmittelsubventionen durchzuführen. Das erfolgt aber um den Preis einer von oben strukturierten politischen und ideologischen Formierung. Die auf die Person Chávez fixierte Bewegung scheint darin gehemmt, basisdemokratische Projekte zu entwickeln, die sich vom Großprojekt abheben.

Boliviens Präsident Evo Morales ist dagegen von einer breiten und vielschich­tigen Basis getragen – von Koka- und Hochlandbauern, Stadtteilgruppen bis zur intellektuellen Mittelschicht. Seine Präsidentschaft ist das Resultat eines Kompromisses zwischen den einzelnen Organisationen und Gewerkschaften. Wenn er bei seiner Amtseinführung von den Vertretern der indigenen Organisa­tionen symbolisch das Zepter der tra­di­tio­nel­len Repräsentation bekommen hat, dann verleiht ihm das eine hohe Legitimation in einer Gesellschaft, in der etwa 70 Prozent der Bevölkerung den Indigenas zugerechnet werden. Es heißt aber auch, dass die Erwartungen hoch sind und die Gruppen, die »Evo« erst präsidiabel machten, in Zukunft mitreden wollen. Er wird weiterhin auf die Entscheidungen angewiesen sein, die in den Nachbarschaftsräten von El Alto oder in der Koka-Region Chaparé gefällt werden. Ob ihm der Ausgleich zwischen den sozialen Bewegungen und den Interessen der transnationalen Konzerne gelingt, ist offen.

Wichtig ist den neuen Präsidenten, dass alles rechtsstaatlich abläuft. Ihren radikalen, nicht selten von antiamerikanischen Sprüchen begleiteten Wahlkämpfen folgen in aller Regel rasch Garantien für Stabilität und Rechtssicherheit. Sie schwimmen auf einer Welle linken Aufbegehrens, das Solidarität zwischen den Ländern und mehr Teilhabe der Armen an Reichtum und Gesellschaft fordert.

Doch die gewählten Repräsentanten machen den Eindruck, in erster Linie an einer regionalen Blockbildung als Gegengewicht zur wirtschaftlichen Vorherrschaft der USA und der Stär­kung des Staatsapparats zu arbeiten. Für po­li­tische und soziale Integration im Innern zu sorgen, scheint dabei, außer in Venezuela, eine große Schwierigkeit zu sein. Ein Beispiel dafür ist Brasilien: Lula hat mit einer Korruptionskrise seiner Regierung zu kämpfen, die versprochene Landreform hat er noch nicht durchgeführt. Unter den Landlosen und in den Favelas von Rio de Janeiro macht sich bereits Enttäuschung breit.

So stellt sich die Frage, ob die linken Präsidenten die Basisbewegungen – etwa auf dem Weltsozialforum – dazu benutzen, sich mehr Legitimation zu verschaffen. Denn der neue südamerikanische Konsens bedeutet zwar mehr Unabhängigkeit von den USA, doch könnte er sich letztlich schlicht als ein wirtschaftlich geeinter Block erweisen, in dem die sozialen Bewegungen die Teilhabe an Politik und Reichtum weiter erkämpfen müssen.