Ratlos in Ramallah

Vom Wahlsieg der Hamas wurden alle überrascht. Die heruntergewirtschaftete Autonomiebehörde will sie am liebsten nicht alleine leiten. von andré anchuelo

Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen hatte es ausgesehen, ein erdrutschartiger Sieg der islamistischen Hamas wurde es. Weder die bisher regierende Fatah-Bewegung von Mahmoud Abbas, dem Vorsitzenden der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), noch die Herausforderer von der Hamas, weder die Israelis noch das sonstige Ausland haben erwartet, dass die ersten palästinensischen Parlamentswahlen seit zehn Jahren zu einem derartigen politischen Umbruch führen würden.

So gibt es in den ersten Tagen nach der Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses, dem zufolge die Hamas mit 74 von 132 Sitzen in der PA-Vertretung über die absolute Mehrheit verfügt und damit die Regierung bilden kann, mehr offene Fragen als Antworten: Wie werden die palästinensischen Islamisten ihre Ziele – die gewaltsame Zerstörung des Staates Israel und die Errichtung einer islamischen Republik nach den Grundsätzen der Sharia – als Regierungspartei verfolgen? Wird es ihnen gelingen, die verschiedenen Polizei- und Sicherheitsdienste der PA, die sich in ihrer großen Mehrheit aus Anhängern der abgewählten Fatah rekrutieren, unter ihre Kontrolle zu bringen? Wie kann sie die Bezahlung der weit über 100 000 PA-Angestellten angesichts der drohenden Einstellung von Zahlungen aus Europa und den USA sicherstellen?

Auf eine vollständige Übernahme der Regierung ist die Hamas offenbar nicht vorbereitet. Ihre Wahl­programm »Wandel und Reform« konzentrierte sich darauf, die Korruption und die Unfähigkeit unter der bisherigen Fatah-Regierung anzuprangern. Dies dürfte auch der Hauptgrund für ihren überwältigenden Erfolg gewesen sein. Denn obwohl die palästinensischen Gebiete auf die Bevölkerung umgerechnet mehr internationale Hilfsgelder pro Kopf erhalten als jeder Staat der Welt, hat sich der durchschnittliche Lebensstandard immer weiter verschlechtert. Spätestens nach dem Tod Yassir Arafats im November 2004 begannen viele Palästinenser, die alte Garde der Fatah für ihre schlechte Lage verantwortlich zu machen.

Vor einem Jahr, als Mahmoud Abbas zu Arafats Nachfolger als Vorsitzender der Autonomiebehörde gewählt wurde, gelang es der »Tunis-Clique«, wie die alten Kämpfer der Fatah, die nach den Osloer Abkommen gemeinsam mit Arafat aus dem tunesischen Exil in die Westbank und den Gaza-Streifen zurückkehrten, auch abschätzig genannt werden, ein letztes Mal, die jungen Aktivisten der ersten Intifada und die Mitglieder der im Jahr 2001 gegründeten »Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden« erfolgreich einzubinden und damit Abbas zu einem klaren Wahlsieg zu verhelfen. Doch damals musste er sich auch nicht gegen einen Kandidaten der Hamas behaupten.

Während die Fatah seitdem mit ihrer Erneuerung kaum vorankam und die Exilgeneration nach wie vor viele Schlüsselpositionen in der Autonomiebehörde und dem Parteiapparat besetzt hielt, änderte sich die Hamas zumindest in einer Hinsicht entscheidend. Zwar lehnt sie noch immer die Osloer Abkommen ab, weil sie in ihren Augen eine formelle Anerkennung Israels darstellen, doch die daraus entstandene Realität der Autonomiebehörde als state in the making erkannte sie erstmals an, indem sie sich an den Wahlen beteiligte.

Um diese Tatsache zu kaschieren und zugleich die nicht islamistisch orientierte Mehrheit der Bevölkerung für sich zu gewinnen, konzentrierte sich die Hamas in ihrem Wahlkampf auf die schlechte Innen- und Wirtschaftspolitik der Fatah. Das führte, schreibt Norbert Jessen in der Welt, zu überraschenden Plakatinhalten: »Hamas verspricht Reform, Fatah erinnert an Heiligen Krieg.« Deren Führung war klar, dass sie sich kaum noch als Kraft des Wandels präsentieren konnte, weshalb sie versuchte, mit dem Mythos des palästinensischen Befreiungskampfes zu werben.

Jetzt allerdings steht die Hamas vor einem Dilemma. Denn obwohl »noch nicht einmal ein Staat, ist Palästina bereits ein gescheiterter Staat«, schreibt der israelische Politologe Shlomo Avineri. Die zivilen Institutionen der Autonomiebehörde sind völlig heruntergewirtschaftet, und trotz aller Finanzhilfen, die vor allem aus Europa kommen, steht sie kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Diesen failed state muss die Hamas nun möglicherweise allein regieren. Selbst wenn sie den einen oder anderen Erfolg bei der Verwaltung des Finanzhaushalts erzielen sollte, wäre die drohende Einstellung der europäischen und US-amerikanischen Hilfszahlungen vermutlich nicht zu kompensieren, auch nicht durch zusätzliche Gelder etwa aus dem Iran.

Die US-Administration hatte vor den Wahlen angekündigt, dass eine Regierung, an der die Hamas beteiligt ist, keine Hilfe erwarten dürfe. Ähnliches war von anderen europäischen Staaten zu hören, obwohl die Sicht der EU auf die Hamas ambivalenter war. Trotz der vielen Anschläge der Hamas auf israelische Zivilisten wurde sie von der EU erst nach langem Zögern als Terrororganisation eingestuft. Auch nach diesem Beschluss im Herbst 2003 gab es wiederholt Hinweise auf informelle Kontakte zwischen Vertretern der EU und der Hamas.

Andererseits war die EU auch unzufrieden mit der Politik der bisherigen palästinensischen Regierung. Obwohl diese immer wieder zugesagt hatte, bestimmte Bedingungen für den Erhalt von EU-Geldern zu erfüllen, etwa die Anzahl der Angestellten der Autonomiebehörde und deren Löhne zu begrenzen, tat sie das Gegenteil. Deswegen wurde die letzte Zahlung vor einem knappen Monat zurückgehalten. Berichten zufolge konnte die PA ihre Angestellten im Januar nur bezahlen, weil Saudi-Arabien kurzfristig einsprang.

In der israelischen Regierung herrscht Ratlosigkeit. Herb Keinon, ein bekannter Kommentator der Jerusalem Post, zitiert einen nicht namentlich genannten israelischen Politiker, der ein Dilemma sieht zwischen dem anfänglichen Reflex, die Geberländer zu einer Einstellung der Zahlungen an die PA und deren Isolierung zu bewegen, und den möglichen Folgen eines solchen Schritts: »Wenn die Autonomiebehörde sich auflöst und die Gehälter nicht bezahlen kann, hängt alles wieder an Israel.«

Kurzfristig zumindest sieht sich die Regierung von Ehud Olmert, der nach Ariel Sharons Schlaganfall das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hat, vor die Frage gestellt, wie sie mit den für die PA erhobenen Zoll- und Steuereinnahmen von monatlich derzeit etwa 60 Millionen Dollar verfährt. Diese Regelung ist ein Teil der Osloer Abkommen, die die Hamas nicht anerkennt. Zu Beginn der »Al-Aqsa-Intifada« vor fünf Jahren hat Israel die Zahlungen für etwa zwei Jahre ausgesetzt, damals sprang die EU ein.

Wie es jetzt weitergehen soll, weiß niemand so genau. Die allseits von der Hamas geforderte Absage an Terroranschläge und die Anerkennung des Existenzrechts Israels dürfte in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sein. »Die Hamas wird ihre Charta oder Agenda niemals verändern oder umwandeln«, prophezeite Khaled Duzdar vom »Israel-Palestine Center for Research and Information« vor den Wahlen, eine Einschätzung, die durch Äußerungen hochrangiger Hamas-Funktionäre nach den Wahlen bestätigt wird.

Als erste politische Maßnahme kündigte Hamas-Chef Chaled Meschaal an, der bewaffnete Teil der Hamas solle mit anderen Gruppen verschmelzen, um eine palästinensische Armee zu bilden. Er wolle »eine Armee, wie sie jedes Land hat, eine Armee, um unser Volk vor Aggressionen zu schützen«. Ob mit einer solchen Maßnahme die verschiedenen palästinensischen Fraktionen geeint oder endgültig gespalten würden, ist allerdings offen. Ebenso, wie Israel, die USA und die EU auf eine solche Armee reagieren würden.

Die ersten Kommentare europäischer und US-amerikanischer Politiker deuten darauf hin, dass man zunächst auf Zeit spielt. »Der Ball liegt jetzt im Feld der Hamas«, sagte die EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner. Möglicherweise hofft man in Brüssel, sich auf den weiterhin amtierenden und als moderat geltenden Vorsitzenden der Autonomiebehörde, Abbas, stützen zu können, und erwartet, dass die Waffenruhe anhält, die die Hamas vor einem knappen Jahr verkündet hat. Kritische Beobachter sehen allerdings vor allem in den immer effektiveren israelischen Gegenmaßnahmen den Grund für den Waffenstillstand, der auch nie einschloss, die Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen einzustellen.

Um die Fortsetzung der Zahlungen aus dem westlichen Ausland nicht zu gefährden, versucht die Hamas nun, ihrer Regierung einen moderateren Anstrich zu geben, und fordert andere Gruppierungen dazu auf, Posten zu übernehmen. Doch die Fatah hat nach ersten Beratungen bereits abgelehnt, sich an der Regierung zu beteiligen. Der Druck der jungen und mittleren Generation, sich in die Opposition zu begeben, um dort die Fatah zu reformieren und einen Generationswechsel einzuleiten, war offenbar zu groß. Am Wochenende gab es bereits die ersten gewalttätigen Demonstrationen junger Fatah-Anhänger, die den Rücktritt der alten Garde forderten. Bewaffnete Anhänger der Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden erklärten bei einem Aufmarsch in Nablus außerdem die Aufkündigung des Waffenstillstands mit Israel. Am Montag besetzten rund 30 palästinensische Polizisten aus Protest gegen den Wahlsieg der Hamas wie bereits am Samstag das Parlamentsgebäude in Gaza-Stadt.

Auch Abbas selbst dürfte nun aus den eigenen Reihen dazu gedrängt werden, sein Amt aufzugeben. Sollte er zurücktreten, würde das Machtvakuum allerdings noch größer werden und es der Hamas noch schwerer fallen, eine internationale Isolation zu vermeiden. Die letzte Hoffnung der Islamisten bestünde dann in der Nominierung so genannter unabhängiger Personen für zentrale Positionen in der Autonomiebehörde.

Doch auch über die Innenpolitik der künftigen Hamas-Regierung herrscht Unklarheit. Ein islamistischer Tugendstaat mit dem Verbot von Alkohol, Kinos und westlicher Popmusik, wie er in der Hamas-Hochburg Gaza in den vergangenen Jahren in weiten Teilen bereits zur Realität wurde, dürfte in der wesentlich säkulareren Westbank nicht unbedingt auf große Zustimmung stoßen. Und dafür, dieses Gesellschaftsmodell auf eine autoritäre Weise durchzusetzen, ist die Machtbasis der Hamas, trotz ihres Wahlsieges, womöglich noch zu schwach. Viele ihrer palästinensischen Gegner hoffen denn auch, dass es dabei bleibt, weil die islamistische Regierung an realpolitischen Schwierigkeiten scheitern und wieder an Popularität verlieren werde.