Selbstkontrolle ist besser

Kontrollen in der Berliner U-Bahn

»Z’rück bla b’tte!« lallt eine Stimme, bevor der nervtötende Alarmton das Schließen der Türen signalisiert. Die folgenden drei Sekunden vergehen zäh wie Kaugummi. Alle scheinen zu erwarten, dass sich jemand vorstellt mit den Worten: »Guten Tag, die Fahrausweise bitte!« Und da hört man sie auch schon. Noch so ein verdammter Teenager, der lustig sein will. Aber plötzlich steht hinter dir die Mutter mit dem Kinderwagen auf, zieht ihren Kontrolleursausweis aus der Tasche und hält ihn dir unter die Nase. Wie in einem schlechten Science-Fiction-Film verwandelt sie sich in eine Agentin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Der Teenager hört auf zu lachen.

Die Medien empörten sich über die Perversität der »Kopfprämien«, welche die von der BVG beauftragte Sicherheitsfirma ihren Mitarbeitern zahlt. Wer auf der Jagd nach Schwarzfahrern besonders skrupellos vorgeht, verdient mehr. Wer skrupellos und schnell ist, darf vielleicht früher nach Hause gehen. Die Kontrolleure machen keine Ausnahmen mehr. Ihr Lohn steigt in dem Maße, wie ihre Toleranz sinkt.

Das ist sicher auch ein Grund, weshalb die meisten Linken die BVG hassen. Aber eigentlich müsste man ihr dankbar sein für die reichlichen literarischen Bezüge, die dieses Kontrollsystem aufweist. Der Mensch, der den Kontrolleuren die Uniform entrissen hat, hat wahrscheinlich George Orwells »1984« gelesen. Big Brothers der BVG sickern in die U-Bahn ein: Niemand weiß, wer oder wo sie sind, aber alle wissen, dass sie dich bewachen.

Die BVG hat offensichtlich auch Michel Foucaults Thesen verinnerlicht. Der entwickelte den Begriff der unsichtbaren Macht in seinem Buch »Überwachen und Strafen«. Darin analysiert er ein Gefängnismodell, das »Panoptikum« heißt. Das »Panoptikum« ist eine Architektur, die von dem utilitaristischen Philosophen Jeremy Bentham entwickelt wurde. Ein Turm steht in der Mitte eines runden Gefängnishofs. In dem Turm könnte sich ein Wachmann befinden und auf dich aufpassen. Oder auch nicht. Die Wirkung auf den Gefangenen ist dieselbe: Er fühlt sich bewacht. Allein die Existenz des Turms verändert unweigerlich das Verhalten der Menschen. Am Ende, sagt Foucault, wird der Gefangene das Auge der Macht in sich tragen, so dass die tatsächliche Ausübung der Macht unnötig wird. Stattdessen bewirkt deren Vorspiegelung das erwünschte Verhalten.

»Eine wirkliche Unterwürfigkeit geht mechanisch aus einer fiktiven Beziehung hervor.« Die BVG hat dieses Prinzip verstanden. Jeder könnte ein Kontrolleur sein. Die Mutter mit dem Kinderwagen, der unauffällige Alte. Werden auch Sie misstrauisch beäugt, sobald Sie in die U-Bahn steigen? Atmet die Frau neben Ihnen auf, wenn Sie sich hinsetzen und Ihre Zeitung aufschlagen? Aber die anderen können so misstrauisch gucken, wie sie wollen, sie werden keine äußeren Zeichen eines Kontrolleurs erkennen. Die Eleganz solcher Macht liegt darin, dass rohe Gewalt, aber auch Zeremonien und andere Symbole der Herrschaft überflüssig werden.

Man fragt sich nur: Was macht ein Kontrolleur am Ende des Arbeitstags, wenn er keine Uniform abstreifen kann? Hängt er seinen Dienstausweis an die Garderobe, bevor er seine Frau küsst? Oder fragt er sie in diesem Moment, ob sie eine gültige Fahrkarte hat?

sophie feyder