Vertuschen in Genua

Im Prozess gegen die Polizisten, die 2001 die Diaz-Schule brutal überfielen, sagen die ersten deutschen Zeugen aus. Mit ihnen fahren internationale Prozessbeobachter nach Italien. von jens herrmann

Es kommt nicht oft vor, dass Polizeibeamte von allerhöchstem Rang sich für Straftaten vor Gericht verantworten müssen. Ebenso ungewöhnlich ist eine internationale Prozessbeob­achtung in italienischen Gerichtssälen. Bei den Prozessen zum G 8-Gipfel 2001 in Genua kommt ab dieser Woche beides zusammen.

Lange hatten die italienische Regierung und die Polizei versucht, die juristische Aufarbeitung der Übergriffe gegen Demonstranten während des G 8-Gipfels in Genua zu verhindern. Noch im Sommer 2004 waren die beschuldigten Polizisten und ihre Anwälte stolz vor die Kameras getreten und hatten behauptet, die Prozesse seien eine Farce und die Anklage ein Komplott. Im Herbst 2005 begannen schließlich zwei große Verfahren gegen Polizisten: einer wegen des brutalen Überfalls auf die Schule »Armando Diaz«, die von den Demonstranten als Schlafstätte benutzt wurde, und einer wegen der Misshandlungen in der Polizeikaserne von Bolzaneto. Seitdem lässt sich keiner der Angeklagten mehr im Gerichtssaal blicken.

In der nun laufenden ersten Prozessphase werden die Zeugen des Überfalls auf die Diaz-Schule angehört. 93 von ihnen waren selbst Opfer des Polizeiangriffs. Unter den vorgeladenen Zeugen sind auch 46 aus Deutschland. Mit ihnen werden zahlreiche Parlamentarier und Menschenrechtsaktivisten nach Italien fahren, um den Prozess zu beobachten.

Staatsanwalt Enrico Zucca hat lange auf die Phase der Zeugenvernehmung hingearbeitet. Die Hamburger Studentin Lena sollte am 9. November 2005 die erste der über 200 Zeugenaussagen machen, das war ihm wichtig. Denn sie wurde damals von den uniformierten Schlägern beinahe zu Tode geprügelt. Aus Furcht vor den Schreien und dem Krach der herannahenden Polizeikräfte hatte sich die 24jährige in einem Schrank versteckt. Doch sie wurde entdeckt. Obwohl sie sich nicht wehrte, prügelten die Polizisten auf sie ein, brachen ihr mehrere Rippen und fügten ihr durch starke Tritte einen Lungenriss zu. Die Schwerverletzte wurde an den Haaren die Treppen heruntergezogen. Nur dank einer Notoperation überlebte sie.

Einem Schlüsselereignis wird in den Zeugenaussagen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es geht dabei um eine Polizeistreife, die rund zwei Stunden vor dem Einsatz an der Schule vorbeifuhr und auf die es nach Aussagen der beteiligten Polizisten einen »organisierten und gewalttätigen Angriff« von Angehörigen des »Black Block« gegeben haben soll. Doch schon die Aussagen der ersten Zeugen standen im Widerspruch zu dieser Darstellung. Daniel aus Berlin sagte aus, es habe wütende Ausrufe gegen die Polizeistreife gegeben, doch von gewalttätigen Übergriffen habe er nichts gesehen. Zwei Stunden später kam die Polizei »rennend und schreiend auf uns zu«, erinnerte er sich bei seiner fünfstündigen Aussage am 17. November 2005. »Sie befahlen uns, uns hinzusetzen, und begannen dann, mit Schlagstöcken auf uns einzuschlagen. Besonders auf den Kopf und mit maximaler Kraft.« Als die Schläge aufhörten, habe er zwei Polizisten in Zivil gesehen, einen davon mit Bart und Helm. Die Anwälte der Zeugen, die auch Nebenkläger gegen die Polizei sind, sind sich sicher, dass es der damalige Chef der Bereitschaftspolizei, Francesco Gratteri, war. Heute leitet dieser die Antiterror-Polizei. Auch Gilberto Calderozzi, sein damaliger Stellvertreter, muss sich im Prozess verantworten. Als dritter hochrangiger Funktionär ist der damalige Vizechef der »Zentralstelle für allgemeine Untersuchungen und Sonderoperationen« angeklagt, Giovanni Luperi, dem auch die politische Polizei unterstellt war.

Doch die Namen der Polizisten, die schwere Körperverletzungen begingen, sind bis heute unbekannt. Für den Prozessbeobachter Wolf-Dieter Narr vom Komitee für Grundrechte und Demokratie ist das damalige Vorgehen der Polizei wie auch das juristische Nachspiel »ein einziger Skandal«. Die ganze Sache sei gekennzeichnet von »Vertuschung und Vernebelung« durch die Polizei und Politiker.

Am 11. Januar konnte Videomaterial des britischen Filmemachers Hamish Campbell im Gerichtssaal für die Entlarvung einer weiteren polizeilichen Lüge dienen. Die Beamten hatten behauptet, sie seien bei ihrer Ankunft vor dem Schulgebäude mit Gegenständen beworfen worden. Campbells Videoaufzeichnung enthält dafür jedoch keinerlei Anzeichen. Sie dokumentiert hingegen den versuchten Totschlag an dem britischen Journalisten Mark Covell im Schulhof. Auch er konnte den Angriff nur dank einer Notoperation überleben.

Da im Diaz-Prozess zwei Verhandlungstage pro Woche angesetzt sind, wird es nach Meinung des Rechtsanwalts Emanuele Tambuscio vom Genova Legal Forum, das die Demonstranten vor Gericht vertritt, zumindest zu einem Urteil in erster Instanz kommen. Eine Verurteilung in der dritten und letzten Instanz sei jedoch unwahrscheinlich, da die Verjährungsfrist hier nur siebeneinhalb Jahre beträgt. Aber immerhin könne wohl eine Entschädigung der Opfer erreicht werden.

Problematischer sind die Verjährungsfristen im zweiten großen Prozess zu den Ereignissen in der Polizeikaserne von Bolzaneto. Während der G8-Proteste war sie zu einer Art Durchgangslager für verhaftete Demonstranten umfunktioniert worden. Per Erlass wurden die Grundrechte der Gefangenen, mit einem Anwalt und Angehörigen Kontakt aufnehmen zu können, außer Kraft gesetzt. Mehr als 270 Gipfelgegner und Journalisten durchliefen die Kaserne und waren der Willkür der Polizeieinheiten ausgeliefert. Es kam zu Misshandlungen, Folterungen, Erniedrigungen und faschistischen Übergriffen. Infolge der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft konnten 44 Polizisten, Krankenhelfer und Ärzte vor Gericht gestellt werden.

Nach einer quälend langwierigen Vorphase hat endlich auch dieser Prozess begonnen. Der 24jährige Eugenio aus Genua stand am Dienstag vergangener Woche als erster Zeuge vor Gericht. Er berichtete, wie die Polizisten ihm auf seine Bitte nach einem Glas Wasser Tränengas in die Zelle gesprüht hätten.

Doch trotz des neuen Tempos im Prozess ist es eher unwahrscheinlich, dass es noch zu rechtskräftigen Verurteilungen kommen wird. Zwar wird die unlängst vom Parlament verabschiedete Gesetzesänderung zur Verkürzung der Verjährungsfristen dieses Verfahren wohl nicht betreffen, da sie auf bereits laufende Verfahren wahrscheinlich keine Anwendung finden wird. Aber die Verjährungsfristen liegen auch so bei nur siebeneinhalb Jahren, von denen viereinhalb bereits verstrichen sind.

Am 15. Dezember wurden die Zeugenlisten an das Gericht übergeben. Die Liste eines Anwalts der angeklagten Polizisten umfasst rund 1 000 Zeugen. Offensichtlich will die Verteidigung diesen Prozess zu einer unendlichen Geschichte machen. Ob es auch gelingt, sie vor der Verjährungsfrist zu beenden, wird immer unwahrscheinlicher.