Volle Silos, leere Mägen

Kenianische Oppositionspolitiker werfen Ministern und Geschäftsleuten vor, die drohende Hungerkrise willentlich zu verschärfen. von ruben eberlein

Pünktlich zum Jahresbeginn machte das World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen auf sich aufmerksam. »Afrikanische leader und all unsere Geber brauchen im Jahre 2006 eine Food-First-Politik«, appellierte James Morris, Direktor des WFP, vorige Woche an die in Khartoum zur Tagung der Afrikanischen Union versammelten Staatschefs. Im Osten Afrikas könnten dem WFP zufolge in den kommenden Monaten mehr als elf Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein, acht Millionen allein in Äthiopien. Im Süden und Westen des Kontinents plant die Organisation die Versorgung von jeweils neun Millionen Menschen.

Eine Million Kenianer ist derzeit von Hunger bedroht, in drei Monaten könnten es bereits 3,5 Millionen sein. Die Silos des National Cereals and Produce Board (NCPB) seien jedoch noch mit der Ernte des Vorjahres gefüllt, berichtete die kenianische Tageszeitung East African Standard. Das Vermarktungsunternehmen kaufe derzeit wegen fehlender Lagerkapazitäten keinen Mais an. Bauern müssten ihre Produkte zu Niedrigpreisen verschleudern oder würden sie in die Nachbarländer ausführen.

Diese scheinbar paradoxe Situation führt die Ernährungswissenschaftlerin Ruth Oniang’o, die für die Oppostionspartei Kanu im Parlament sitzt, auf das lohnende Geschäft mit dem aus internationalen und nationalen Kassen finanzierten Nahrungsmittelimport zurück. »Es wäre nicht überraschend, wenn es sich herausstellt, dass jene Firmen, die Mais einführen oder transportieren, Ministern und hohen Regierungsangestellten gehören«, sagte sie dem Standard.

Der Kanu-Parlamentarier Billow Kerrow, dessen Wahlkreis besonders von der Dürre betroffen ist, beschuldigte Maishändler und das Marketing-Board, die Knappheit willentlich zu verschärfen: »Das NCPB schafft absichtlich zu wenig Mais in die Silos der von Hunger betroffenen Gebiete, um skrupellosen Geschäftsleuten die Möglichkeit zu geben, ihre Maisvorräte zu verkaufen.«

Bereits in den vergangenen Jahren wurden einige der kriminellen Machenschaften in Zusammenhang mit der Nahrungshilfe in Kenia bekannt. Vor zwei Jahren befasste sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit der Lizenzierung von Mais­im­por­teu­ren, die mit der Versorgung in Notgebieten beauftragt wurden. Die Untersuchung ergab, dass jede der fünf Firmen hochrangigen Beamten, Ministern oder ihnen nahe stehenden Personen gehörte.

Das WFP versorgt nach eigenen Angaben heute doppelt so viele Menschen in Afrika wie vor zehn Jahren. Mehr als ein Drittel der Einwohner des Kontinents können sich nur unzureichend ernähren. Die Liste der Gründe für diesen fortgesetzten Skandal ist ebenso lang wie regional- und landesspezifisch. Koloniale Produktionsstrukturen, ungünstige klimatische Verhältnisse, die Krise lokaler ländlicher Institutionen und die Aids-Pandemie zählen dazu. Doch vielen Ländern gemeinsam ist eine spezifische Form der Herrschaftsvermittlung. Sie verhindert das Entstehen einer gesellschaftlichen Bewegung, die das Recht auf ausreichend Nahrung für alle und dessen Durchsetzung einfordern könnte.

Die Interessen von politischen Akteuren in den Regierungen und Verwaltungsapparaten liegen oft in der Aneignung von Renten aus dem Export unverarbeiteter Rohstoffe oder der internationalen Entwicklungshilfe. Gegenüber Kleinbauern und Armen legitimieren sie ihre Herrschaft durch die direkte Zuteilung eines Teils dieser Ressourcen im Austausch gegen Loyalität und Gefolgschaft. Den Ausschluss aus den patrimonialen Bindungen kann unter den Bedingungen des dauernden Mangels niemand riskieren. Schlimmer als die Abhängigkeit von einem Patron ist es schließlich für einen Klienten, gar keinen Patron zu haben.