Zurück nach vorn

Zwischen Raubkopie, überzüchteter Kinowürfel-Kultur und Qualität: Die Berlinale, Deutschlands größtes Filmfestival, beginnt. von jürgen kiontke

Im Jahr 2005 befand sich das Kino in einer tiefen Krise. Da hat es nichts genützt, dass die Produktionsfirmen mit Hetz-Spots gegen die Videopiraterie zu Felde zogen: Das Publikum wurde per se verdächtigt, Kinofilme per Digicam im Kino mitzuschneiden! Allerdings geht der Trend zum Pantoffelkino: Wer neun Euro für »King Kong« hinlegen muss, überlegt sich, ob er nicht ein halbes Jahr wartet, um sich die DVD für denselben Preis zu besorgen und zu Hause zu gucken. »Flachis« – also Flachbildschirm-Fernseher – zu relativ moderaten Preisen, finanzielle Knappheit auch der bildverrückten Mittelschicht, zum Teil gute Versionen der Filme im Internet, die den an eBay geschulten Jagdtrieb anheizen, Überkapazitäten infolge eines ruinösen Aufbaus von Multiplex-Kinos lassen dem Kinosaal wenig Spielraum. Und Raubkopien? Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie meist schon in den Kopierwerken illegal gezogen werden. Das geht immer besser: Auch im Kino ist der Digitalismus auf dem Vormarsch, die traditionelle Filmrolle wird immer weniger benutzt.

In diesem Kontext ist es ein sehr witziger Einfall des Berlinale-Sponsors Sony, die ersten Gäste der Berliner Filmfestspiele 2006, die Journalisten, zur Jahrespressekonferenz des Filmspektakels, das vom 9. bis zum 19. Februar am Potsdamer Platz stattfindet, mit USB-Sticks zu begrüßen.

Krise hin oder her: Filmfestivals funktionieren daran vorbei, sie präsentieren sich als moderne Trendsetter der populären Kultur und Konserve von Zeit und Politik gleichzeitig. Fortschritte sind immer da zu verzeichnen, wo das Kino sich in die Randzonen begibt: Film als Kampagnenwaffe der Globalisierungskritik, im Geschlechterkrieg, gegen die Eltern – oder im Iran: Da bekommt derzeit praktisch jedes Kind eine Kamera in die Wiege gelegt.

Oder in Deutschland: »Du bist (in) Deutschland«, denn so viele deutsche Produktionen – 55 – hat es hier noch nie zu sehen gegeben. Fünf Jahre schon leitet Dieter Kosslick die Berlinale, und der Rummel wird immer verrückter: »Wohin geht ein Festival?« fragt er lakonisch, »zum Büfett oder zur Leinwand?« Um das zu klammern, hat er dieses Jahr die Sonderreihe »Hunger, Food and Taste« – zu neudeutsch in etwa blood, sweat and tears – aus der Taufe gehoben. Denn: »Wer kochen kann, kann auch filmen.«

Unter Beteiligung des Festpublikums werden Koch- und Filmkünstler an einen, tja: Tisch gebracht, denn, so Kosslick: »Im Essgeschäft lernt man Verantwortung. Das betrifft ja auch die ärmeren Leute. Und das Kino: Konfuzius hat gesagt, auf Sex, Essen und Kino kann man schlecht verzichten, nein, das hat er natürlich nicht gesagt, aber egal: Auf Essen kann man womöglich einen Tag verzichten.«

Gebucht für derlei Event-Kino sind Prominente wie etwa die Regisseurin Sandra Nettelbeck. Die französische Botschaft hilft bei der Reihe »Cuisine et Cinema«.

Warum nicht? Dass Kochshows funktionieren, führt das Fernsehen ja täglich vor. Dass es hingegen beim Film neben Sex auch ums Ficken geht, hat die Berlinale mit ihrer schwullesbischen Reihe Panorama immer wieder vorgeführt. Die wurde zum Queer-Programm umgedichtet. Denn schwul-lesbisch reiche dann nicht mehr, so Panorama-Leiter Wieland Speck, wenn man Trends ausmachen wolle, und da werden, sic!, »die Randbereiche und Seitenkategorien interessant«, in diesem Fall: »Von Transen und Zwittern« (Speck). Etwa wenn es um den »Skandal in Deutschland geht, dass Menschen mit uneindeutigem Geschlecht zu Mann oder Frau umoperiert werden«, bevor sie diesbetreffende Wünsche auch nur äußern könnten. Das Randbereich-Fachwort: »Gated communities.« Abgeschlossene Welten tun sich überall auf, man muss nur hinsehen, auch und gerade bei Allerweltsthemen, etwa beim Fußball und Iran oder am besten bei beiden gleichzeitig: Da zeige ein Beitrag, dass Mädchen nicht mal ins Stadion dürften, »geschweige denn auf die Herrentoilette«, wie Kosslick in seiner unnachahmlichen Art sekundiert. Das Kino, so scheint’s, sucht das Allgemeine im Besonderen.

Die Berlinale-Leitung rechnet dieses Jahr mit 150 000 Besuchern und benötigt einen Etat von 16 Millionen Euro. Kosslick: »Es ist eben nicht mehr so billig wie früher, als es weniger kostete.«

Das Geld stammt von der Bundeskulturstiftung (sechs Mio.) und von Sponsoren (Rest-Mio.) und werden gewinnbringend angelegt: Im »Talent Campus« hat sich ein stabiles Netzwerk konstituiert, dass der einheimischen Filmszene jede Menge Impulse verleiht. Das ist wichtig für Kulturstadt minus Arbeitsplätze wie Berlin – bis zu 50 Filmszenen pro Tag werden hier bereits gedreht.

Wo wir schon im Randbereich Deutschland sind: In der Panorama-Sektion tummelt sich – Buck, Graf, Karmakar – die Prominenz, im Wettbewerb die Masse: Von 26 Beiträgen kommen vier aus einheimischer Produktion.

Bemerkenswert: Auch der französische Bildungsfilm wird nun hierzulande produziert. Oskar Roehlers Houellebecq-Adaption »Elementarteilchen« ringt um einen Goldenen Bären. Die deutsche Schwemme sei auch eine Reaktion darauf, dass das deutsche Kino im Ausland wieder mehr wahrgenommen wird, ist zu vernehmen. Jawohl, Deutschland ist bald überall, und dafür wird sogar der alte Kudamm mit seinen Restkinos wieder aktiviert: Dort gibt’s dieses Jahr wieder Premieren. Und Franka Potente regie-debüttiert – mit einem Stummfilm in Schwarz-weiß. Hätte nur noch der Randbereich Berlin gefehlt: Berlinale rettet Palast der Republik! Dazu, Deutschland ja, aber nicht gleich vor der Haustür, war leider noch nichts zu vernehmen. Vielleicht sollte man schnell noch einen Film über die Kunstruine drehen. Die Retrospektive kümmert sich dieses Jahr ja auch um »Traum­frauen der fünfziger Jahre«, nicht zu verwechseln mit Trümmerfrauen.

Fehlen nur noch die Promis – denn, man möge mir verzeihen, wie Kosslick wiederum sagt: »Der rote Faden ist dieses Jahr der rote Teppich.« Erwartet werden George Clooney, Nick Cave und Vin Diesel, der in der Hauptrolle eines Sidney-Lumet-Films als ernst zu nehmender Mafioso reüssiert. Bisher kannte man den Mann aus B-Produktionen und einem Pro 7-Trailer, wo er hinten gerade alles in die Luft gejagt hat und nun den verdutzten Zuschauer wissen lässt: »Ich steh auf so’n Scheiß.« Jetzt steht Vin auf Qualitätskino.

Auch Sigourney Weaver wird man begrüßen können, die im legendären vierten Teil der Alien-Reihe, mittlerweile zum Zwitterwesen, siehe oben, aus Biowaffe und Menschin geklont, in einer denkwürdigen Szene verlautbart: »Wen muss ich ficken, um hier runterzukommen?«

Das würde zwar jetzt, weil alle augenfälligen Themen berücksichtigend, schön als Motto fürs diesjährige Berliner Filmfest passen, soll aber auf keinen Fall das Schlusswort sein, das würde den 360 tollen Filmen und der einzigartigen Atmosphäre mit ihren vielen kleinen Verrücktheiten nicht gerecht. Denn das Kino untersucht eben nicht nur im Besonderen, sondern auch im Allgemeingültigen, »in welchem Zustand die Welt gerade ist«, wie Thomas Hailer, Leiter des Kinderfilmfests, sagt.

Unter seiner Ägide sehen wir die neu aufgelegten Traditionsstoffe »Hänsel und Gretel« und »Räuber Hotzenplotz«.

Gated hin, community her, alle Raubkopiererhetze ist vergessen: Spätestens hier, als industrielles Konservierungsmittel, kriegt das Kino die Kurve: als retrospektive Moderne.

Die Berliner Filmfest­spiele vom 9. bis 19. Februar 2006. Alle ­Infos unter ewww.­berlinale.de