Die Fähigkeit, »Ich« zu sagen

Hans J. Markowitsch und Harald Welzer haben ein aufregendes Buch über hirnorganische Grundlagen und die biosoziale Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses geschrieben. von michael saager

Seit dem 1. Oktober 2001 untersucht die Forschungsgruppe »Erinnerung und Gedächtnis« – geleitet vom Bielefelder Neurowissenschaftler Hans J. Markowitsch und dem Essener Sozialpsycho­logen Harald Welzer – am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum in Nord­rhein­-West­­falen das, was den Menschen, so die Wissenschaftler mit einer gewissen Hybris, erst zum Menschen mache: Sie untersucht das autobiografische Gedächtnis, seine Funktionsweisen und seine individuelle Entwicklung, auch Ontogenese genannt. Beteiligt an diesen Untersuchungen sind neben neurobiologischen und neuropsychologischen Disziplinen die (kulturvergleichende) Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie und ein paar weitere sozialwissenschaftliche Fächer. Man denkt und arbeitet interdisziplinär.

Zwar würden Krähen und nichtmenschliche Primaten, erklärte Marko­witsch vor einigen Monaten in einem Vortrag in Göttingen, über erhebliche, gedächtnisbezogene Fähigkeiten zur Problemlösung verfügen, vorzugsweise um an Futter zu kommen, doch seien all diese Fähigkeiten ausschließlich gegenwartsbezogen. Der vielleicht wesentlichste Unterschied des menschlichen Gedächtnisses zum tierischen bestehe in der Variabilität seiner Zeitbezogenheit. Und eben diese Variabilität begründe schließlich unsere fundamental menschliche Fähigkeit, »›Ich‹ sagen zu können und damit eine einzigartige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, eine bewusste Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat«. Selbst unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen mit einer 99prozentigen Identität des genetischen Codes, verfügten, so Markowitsch, offensichtlich nicht über ein autobiografisches Gedächtnis.

Zugegeben, die Bedeutung des autobiografischen Gedächtnisses für menschliche Besonderheiten, für das Denken, Verhalten und Handeln ist kein ganz neuer Topos der Neuro- und Sozialwissenschaften. Was hingegen so konsequent bisher nicht realisiert worden ist, ist die fächerübergreifende Interdisziplinarität, mit der Markowitsch, Welzer und ihre Kollegen zu Werke gehen. Bis auf wenige Ausnahmen war es bislang doch so, dass die Forschungsmanövriermasse Mensch in den Händen einzelner Disziplinen lag. Insbesondere die Neurowissenschaften, vor ein paar Jahren (selbst-)ernannt zur neuen Leitwissenschaft, meinten, ganz gut ohne die Sozialwissenschaften auskommen zu können.

Diskursiven Austausch, meist in Form eines hartnäckigen Aneinandervorbeiredens, pflegten die Gehirnforscher zwar mit den Philosophen des Geistes. Doch deren Kenntnisse des Neuronalen sind erfahrungsgemäß so schwach, dass man bei mancher Debatte das Gefühl bekam, die Gehirnforscher würden sich permanent lustig machen über die Elfenbeinturmbewohner auf ihren philosophischen Lehrstühlen und ihre recht frei schwebenden Ansichten zu den Themen Geist, Bewusstsein etc. Die Philosophen ihrerseits schmunzelten über das naive positivistische Vertrauen der Gehirnforscher in naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse, oder sie ärgerten sich, etwa darüber, dass die Gehirnforscher sich zuletzt anschickten, ein komplexes Geistesphänomen wie den freien Willen zu einer bloßen Illusion des Neuronalen zu machen.

Eine Art Zwischenbilanz gut vierjähriger gemeinsamer Untersuchungen zum Thema ist Markowitschs und Welzers Buch »Das autobiographische Gedächtnis. Hirn­organische Grundlagen und biosoziale Ent­wicklung«. Es präsentiert aktuelle Ergebnisse der Hirn- und Gedächtnisforschung und verlangt durchaus, obwohl es ausgesprochen flüssig geschrieben ist, den Willen zum genauen Lesen, denn seine Autoren haben viel zu sagen und bewegen sich dabei zugleich auf einem Gebiet, dessen Vokabular, Thesen und Theoreme nicht unbedingt zum kulturellen Alltagsbestand »normalen« Wissens gehören.

Dass insbesondere auf dem Feld der Ge­dächtnisforschung Interdisziplinarität angebracht ist, verrät bereits das Wort »biosozial« im Titel. Das Gehirn und mit ihm das Gedächtnis, so eine zentrale, wenn auch nicht nagelneue These der Autoren, bildet bzw. strukturiert sich selbst erst »in der Ausein­andersetzung mit seiner physischen und sozialen Umwelt«; mehr noch: »Organische und psychosoziale Reifung sind in der menschlichen Entwicklung lediglich unterschiedliche Aspekte ein und desselben Vorgangs.« Sozial geformt wird der Mensch von Geburt an; und all diese intersubjektiven Lern- und Erfahrungsprozesse etablieren nach und nach verschiedene Gedächtnisformen. Vom prozeduralen Gedächtnis über das so genannte Priming geht es stufenweise zum perzeptuellen Gedächtnis und Wissenssystem und von dort zum epi­sodischen Gedächtnis, bis, nachdem Gefühle sozialisiert worden sind und eine Sprache erworben worden ist, schließlich im Alter von circa fünf Jahren (oder etwas früher) das autobiografische Gedächtnis entsteht, und damit u. a. die Fähigkeit, »Ich« zu sagen und sich zu meinen.

So weit, so entwicklungspsychologisch. Nun hat der Mensch aber eine biologische Grundausstattung; und eben diese Grundausstattung – hier ist vor allem die neuronale gemeint – hat ihre organischen Eigen­heiten. Das heißt, Entwicklungszeiten und -potenziale haben sich an die Spielregeln der Biologie zu halten. Ein Kind, das im Alter von acht Monaten mit seinem Namen angeredet wird, hat – selbst wenn es seinen Eltern so vorkommen sollte – keine Ahnung, dass es und nur es persönlich gemeint ist. Das reflexive Selbstverhältnis ist, wie gesagt, noch nicht entwickelt, was auch damit zu tun hat, dass das junge Gehirn, selbst wenn es »wollte«, neurobiologisch noch gar nicht in der Lage wäre, derartige Fähigkeiten auszubilden. Im genetischen Programm des Menschen sind neuronale Verknüpfungen solcher Art erst später vorgesehen.

Die Ontogenese des Gedächtnisses gehen die Autoren gleichermaßen fundiert von der Entwicklungs- und der neuronalen Seite an. Sie erklären, weshalb die Entwicklung des Gedächtnisses eine lebenslange Aufgabe ist, präsentieren eine Vielzahl Versuchs­anordnungen und gut verständliche schematische Abbildungen; gerade Letztgenanntes ist ja keine Selbstverständlichkeit. En passant bekommt der Le­ser verdichtete Lektionen über Sinnessysteme, Informationsverarbeitung, Altersvergesslichkeit, früh­kindliche Amnesie, die Tücken der Erinnerungen, die Bedeutung von Bedeutungen, den starken Zusammenhang von Kognitionen und Emotionen oder den Aufbau und die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns, was gut ist, da dieses zusätzliche Wissen die Lektüre nicht erschwert, sondern erleichtert: Es handelt sich um Erkenntnisse, die der weiteren Wissensakkumulation dienen, weil sie das Gesamtverständnis erhöhen.

Am Ende des Buchs präsentieren Markowitsch und Welzer eine möglicherweise über­raschende Hypothese: Das autobiografische Gedächtnis, so die Autoren, gewährleiste funk­tional vor allem die Synchronisierung des Einzelnen mit seiner sozialen Umwelt, was mit zunehmender Komplexität individualisierter Gesellschaften freilich immer wichtiger werde: »Es stellt für einen selbst wie für die anderen sicher, dass man es trotz der verstreichenden Zeit und der physischen und psychischen Veränderungen über die Lebensspanne hinweg immer mit ein und demselben Ich zu tun hat.«

Gerade die Tatsache, dass wir wieder so vieles von dem vergessen haben, was wir einmal wuss­ten, garantiert die bei gesunden Menschen unverbrüchliche Einheit dieses Ich: Erinnerungen verblassen nicht einfach so, sie verblassen, weil wir uns ändern, weil sie nichts oder nur noch wenig mit unserem gegenwärtigen Ich zu tun haben. Markowitsch und Welzer sagen das zwar nicht, doch so gesehen könnte man die Einheit des Ich beinahe eine Illusion nennen – eine komplexe kognitiv-emotionale Illusion, hervor­gebracht durch eine funktionale Vergessensleistung, die von der sozialen Welt, in der sie entsteht, selbstverständlich nicht zu trennen ist.

Hans J. Markowitsch/ Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, 320 S., 29,50 Euro