Dissidente Kannibalen

Ein Sampler erinnert an Tropicália, die politische und popkulturelle Avantgarde-Bewegung Brasiliens unter der Militärdiktatur. Von andreas hartmann

Wenn wir brasilianische Musik meinen, reden wir von Bossa Nova oder »Brasil«, wird’s auch noch ein wenig elektronisch, fällt der schlimme Begriff »Brasilectro«, und wenn Rio zur Karnevalszeit Kopf steht, liegt das, auch das kriegen wir gerade noch hin: am Samba. In Brasilien selbst macht man sich da weniger Umstände, grob unterteilt wird in Samba und schlicht MPB, was für »música popular brasileira« steht. Unter MPB findet sich dann jeder wieder, der in der unglaublich reichen brasilianischen Populärmusik dieses und des letzten Jahrhunderts eine Rolle gespielt hat. Auch die so genannten Tropicalistas, was deswegen so bemerkenswert ist, da diese sich eigentlich gerade dagegen wehrten, zur MPB zu gehören.

Sie wollten lieber etwas eigenes sein und waren es auch. Doch die Blütezeit der brasilianischen Tropicália-Bewegung ist schon lange her, sie war 1968 und endete, so steht es auch im ausführlichen Booklet der vor kurzem erschienenen »Tropicália«-Tribut-CD des englischen Labels Soul Jazz, mehr oder weniger im selben Jahr. Tropicália war wie Punk: kurz und schmerzhaft.

Später wurden die Konturen dieser ehemaligen Subkultur abgeschliffen, Brasilien hat sich die musikalische Opposition von einst längst einverleibt und bestens verdaut. Gilberto Gil, der als einer der Anführer der Bewegung nach dem Staatsstreich von 1964, der Errichtung der Militärdiktatur, galt, 1968 nach mehrmonatiger Gefangenschaft gar das Land verlassen musste, ist heute unter dem linken brasilianischen Staatspräsidenten Inacio Lula Da Silva Kulturminister des Landes und spielt schon mal auf UN-Konferenzen Bob-Marley-Songs zusammen mit Kofi Annan an der Konga. Irgendwie kommt einem dieser lange Lauf zu sich selbst recht bekannt vor.

Tropicália wurde von genau den Verhältnissen gefressen, die es ursprünglich herbeiführen wollte. Geblieben ist das Interesse an dieser Musik. Musikalisch beziehen sich heute Beck, Tortoise und Indiebands wie The Bees explizit auf sie, David Byrne und Arto Lindsay als Vertreter des New Yorker Postpunk sind bekennende Fans. Und nun wollen die vorliegende Compilation und eine bis Ende Mai laufende Lon­doner Ausstellung mit dem Titel »Tropicália: A Revolution In Brazilian Culture« nochmals dem hochkomplexen Tropicália-Konzept nachgehen.

Tropicália hat das Gesicht Brasiliens entscheidend mitgeprägt. Brasilien ist nach dem Niedergang Argentiniens Süd­amerikas wirtschaftlicher Motor, muss aber damit zurechtkommen, dass das reichste Prozent der Bevölkerung mehr verdient als die ärmsten 50 Prozent. Brasilien bleibt ein Land der Widersprüche, das, aus antiamerikanischen Gründen, komplett auf Microsoft zugunsten von Linux verzichtet und dennoch vom Handel mit den USA abhängt, das Rassismus einem Mythos nach nicht kennt und trotzdem auch unter einer linken Regierung seine soziale Struktur streng nach Hautfarbe gliedert – tiefschwarz ist natürlich ganz unten, wie die Hölle.

Wie gesagt: Tropicália wurde inzwischen gefressen, damals jedoch fraß es selbst. Im wörtlichen Sinne war das sein Konzept. In seiner wunderschönen Autobiographie »Tropical Truth – A Story of Music & Revolution in Brazil« beschreibt der intellektuelle Kopf der Tropicalistas, Caetano Veloso, ausführlich deren extrem durchdachtes Konzept. Sie bezogen sich auf ein Manifest des brasilianischen Dichters Oswald De Andrade aus dem Jahr 1928, in dem dieser für kulturellen Kannibalismus plädierte.

Damit war gemeint, dass das Einverleiben fremder Kulturen dem bloßen Imitieren vorzuziehen sei. Am Beispiel von Elvis erläutert Veloso in seiner Autobiographie den Sinn, der sich für ihn durch diesen Gedankengang ergab. Er wuchs mit Samba und später mit Bossa Nova auf, er war jedoch begeistert von der US-amerikanischen und englischen Rockrevolution, von Elvis und den Beatles und ihrem Vermögen, die bürgerliche Odnung in Europa und den USA aufzumischen.

Doch konnte das so auch in Brasilien funktionieren? Er kam zu dem Schluss: Ja, jedoch nicht, indem man sich selbst eine Tolle oder einen Pilzkopf wachsen lässt, sondern indem man sich die subversiven Hintergründe, die einen zum Tragen einer Tolle oder eines Pilzkopfs brachten, einverleibt und zu einer eigenen subversiven Strategie verformt. Und indem man sich gleich noch viel mehr an kulturellen Fremdeinflüssen reinschaufelt.

Ein echt anthropophagisches Menü, so gab Veloso einmal an, bestehe aus: »neuen Dingen, die elektrische Gitarren mit einbeziehen, gewalttätiger Poesie, schlechtem Geschmack, traditioneller brasilianischer Musik, der katholischen Messe, Pop, Kitsch, Tango, karibischem Zeug, Rock’n’Roll und außerdem unserer Avantgarde, so genannter seriöser Musik«.

Die Tropicalistas lehnten sich somit auch gegen die Reinhaltungsgebote der brasilianischen Linken auf, die das Verwässern ihres Bossa Nova, den sie fleißig mit politischen Texten gegen die Militärdiktatur versahen, als Skandal empfanden. Wie Linke überall auf der Welt waren auch die brasilianischen Linken zwar gegen die eigene Regierung, aber unbedingt auch gegen Amerika und dessen angeblichen Kulturimperialismus. Die Tropicalistas jedoch waren heiß auf Jimi Hendrix und bewunderten die psychedelischen Experimente der Beatles, einer ihrer größten Hits wurde sowohl von Gilberto Gil als auch von Caetano Veloso zu »Chuck Berry Fields Forever« und »Sugar Cane Fields Forever« kannibalisiert.

Die Tropicalistas zupften also nicht bloß brav ihre anpolitisierten Bossas runter wie die orthodoxen Linken, sondern versuchten sich an einer kulturellen Revolution, womit das repressive Regime weit weniger klarzukommen schien. Man befürchtete wohl, dass es von der kulturellen Aufwiegelung nur noch ein kleiner Schritt hin zum offenen politischen Widerstand sein könnte, weswegen 1968 durch die Exilierung von Gilberto Gil und Caetano Veloso die Tropicália-Bewegung kaltgestellt wurde.

Nach der Rückkehr der beiden 1972 wurde Veloso zu einem der größten Popstars des Landes, dessen Ruhm bis heute anhält, und mit Gilberto Gil sitzt nun eben ein echter Widerstandskämpfer in der Regierung, noch dazu einer mit schwarzer Hautfarbe. Die Guten haben gesiegt, es ist wie im Märchen. Jetzt müsste Gilberto Gil nur noch die Problemchen mit der Armut im Lande, den elenden Favelas, dem Rassismus und den Straßenkindern hinbekommen. Zumindest auf seinen Konzerten, die er immer noch gibt, zweifelt sein Publikum bestimmt keinen Moment an ihm.

Tropicália. Soul Jazz/Indigo