Aufstand der Pfleger

Kapital und Keynesianismus von jörn schulz

Unter Kommunisten galten die Sozialdemokraten in den zwanziger Jahren als Krankenpfleger am Totenbett des Kapitalismus. Die Pflege, so hofften Revolutionäre damals, werde das unvermeidliche Ableben allenfalls verzögern. Heute aber scheint es dem Patienten besser denn je zu gehen. Er jammert zwar wie ein Hypochonder, fühlt sich in Wahrheit aber sehr gesund und meint, keiner Behandlung zu bedürfen.

Eine wachsende Zahl von Sozialdemokraten und Keynesianern sieht das anders. Sie befürworten eine Zwangstherapie. Diese Forderung erhält bei den Wahlen mehr Zustimmung, und die einflussreichsten deutschen Gewerkschaften, Verdi und IG Metall, verhandeln derzeit etwas härter und rufen sogar zu Streiks auf.

Reallohnsenkungen und schlechtere Arbeitsbedingungen wurden seit den Streiks für die 35-Stunden-Woche in den achtziger Jahren weitgehend widerstandslos hingenommen. Das lag nicht allein daran, dass eine bürokratische Führung die an sich kampfbereite Basis ausgebremst hätte. »Man muss ja zugeben, dass unsere Arbeit zu teuer ist«, war ein Satz, den Aktivisten der Gewerkschaftslinken auch von ihren Kollegen zu hören bekamen.

Nicht zufällig änderte sich die Stimmung mit Hartz IV. Zuvor hatte der Sozialabbau überwiegend gesellschaftliche Randgruppen getroffen, nun aber werden auch Facharbeiter nach einem Jahr Arbeitslosigkeit auf Sozialhilfeniveau gesetzt und um ihre Ersparnisse gebracht. Sie sollen jederzeit bereit sein, für einen neuen Arbeitsplatz den Wohnort zu wechseln, und sich nach einem verlängerten Arbeitstag auf eigenen Kosten fortbilden, aber auch die Fortpflanzung nicht vernachlässigen, ihren Kindern ein stabiles Zuhause geben und ihre Eltern pflegen, weil der Staat dafür kein Geld mehr ausgeben will. Gleichzeitig wird ihnen verdeutlicht, dass weder ihre Anpassungsbereitschaft noch das gute Geschäftsergebnis ihres Unternehmens ein Schutz vor Entlassung sind. Das sind dann auch für den bravsten Lohnabhängigen zu viele Zumutungen auf einmal.

Dass nun die soziale Revolution nicht auf dem Programm steht und dass gewerkschaftliche Positionspapiere oder selbst gemalte Transparente von Streikenden den Standards linker Ideologiekritik nicht genügen, sollte eigentlich niemanden überraschen. Dennoch könnte der lauter werdende Protest eine politische Veränderung einleiten. Er folgt verspätet einem internationalen Trend, der vor allem in Lateinamerika, aber auch in Frankreich, Indien und anderen Ländern erkennbar ist.

In der Vergangenheit entdeckten kapitalistische Regierungen stets neue Verteilungsspielräume, wenn der Druck groß genug war. Auch in den Zeiten der »Globalisierung« dürfte das nicht anders sein. Sie ist ohnehin nicht für alle Lohnabhängigen von Bedeutung, denn die Müllabfuhr lässt sich nun einmal nicht nach Bangalore outsourcen. Zudem beginnt der Reiz der Produktionsverlagerung in einigen Branchen nachzulassen, da ein Informationstechniker in Indien bereits knapp 900 Euro verdient. Auch den »feindlichen Übernahmen«, letztlich nichts anderes als eine Fortsetzung des Monopolisierungsprozesses, sind Grenzen gesetzt. Die Zahl der gefürchteten Hedgefonds sank in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres um 16 Prozent.

Ob aus diesen Entwickungen eine keynesianische Wende wird, ist noch unklar. Sicher ist, dass die radikale Linke in den vergangenen 150 Jahren die Flexibilität des Kapitalismus immer wieder unterschätzt hat. Und das notwendige Pflegepersonal für den unwilligen Patienten steht auch in Deutschland bereit.