Being Poor, Feeling Blue

Das US-amerikanische Gesundheitssystem bekommt den Anstieg psychischer Erkrankungen nicht in den Griff. Soziale Unterschiede spielen dabei eine wichtige Rolle. von lia petridis (text und fotos)

Es riecht nach Limonenallzweckreiniger. Steven trägt ein gestärktes Oberhemd. In seiner rechten Hand hält er ein Kristallglas, randvoll mit »White Russian«. Der 1,94 Meter große Mann steht sehr aufrecht in der Mitte seines Einzimmer-Appartements. Die Radiostation WNYU spielt Nina Simone an einem sonnig-milchigen Winternachmittag in Harlem, New York City. In einer Ecke des Raumes steht ein altrosafarbener Ohrensessel. Wäre sein Brillengestell nicht rundlich und aus silberfarbenem Metall, sähe Steven ein bisschen wie Malcolm X aus. Das Wohnzimmer in dem Jugendstilappartement wäre ein ideales Filmset, das Drehbuch könnte er selbst schreiben, denn das ist sein Traum! Drehbuchautor. Steven ist 38 Jahre alt. Geschrieben hat er schon vier Drehbücher, verkauft noch kein einziges. Auch nicht verfilmt. Sein aktuellstes von Dezember 2005 trägt den Titel »Chaos«.

»Ich habe Stimmungsschwankungen. Wie Miles Davis, wie Frank Sinatra, wie Bob Dylan. Das sind Leute, die ich bewundere. Der Unterschied zu mir ist: Ich behandele meine Mitmenschen besser.« Steven beugt sich leicht vornüber, grinst, rückt seinen Krawattenknoten zurecht. »Ich weiß es jetzt besser, Baby. Ich kleide mich gut, siehst du? Ich gehe zum Fitnessstudio, morgens um vier. Manchmal. Dann gehe ich wieder nach Hause. Meine Freunde sind alle auf der Leinwand. Ich liebe Ingrid Bergmann. Was für eine schöne, weiße Frau.«

Steven ist manisch-depressiv. Das fand er 1999 heraus. In Behandlung ist er nicht, denn er hat keine Krankenversicherung. Damit ist er einer von 45 Millionen US-Amerikanern, die die medizinische Untersuchung entweder selbst bezahlen oder gar nicht erst zum Arzt gehen. Zwei wissenschaftliche Studien, eine vom Commonwealth Fund und eine zweite von den Vereinten Nationen, ergaben im Dezember 2005, dass das US-amerikanische Gesundheitssystem im internationalen Vergleich gar keinen guten Eindruck macht. Die Säuglingssterblichkeit in den USA ist auf gleichem Niveau wie in Malaysia – einem Land, in dem das durchschnittliche Einkommen etwa ein Viertel des US-amerikanischen beträgt. Die Ethnisch definierte Ungleichheit ist ebenfalls ausgeprägt. So hebt der UN-Bericht hervor, dass die Säuglingssterblichkeit in den Stadtregionen des indischen Bundesstaats Kerala niedriger ist als unter schwarzen US-Amerikanern in der US-Hauptstadt Washington D.C. Einkommensunterschiede führen zu ungleichem Zugang zur Gesundheitsversorgung: 36 Prozent der US-Amerikaner, die unter der Armutsgrenze leben, sind ohne Krankenversicherung.

Auch dort gibt es große Unterschiede je nach Herkunft der Menschen: Die Nichtversichertenquote unter Weißen liegt bei 13 Prozent, 34 Prozent sind es bei US-Amerikanern hispanischer und 21 Prozent bei solchen afrikanischer Herkunft. Etwa 18 000 Amerikaner, so zitiert der UN-Bericht das »Institute of Medicine«, sterben jedes Jahr verfrüht, weil sie nicht versichert sind. Geldmangel hielten 40 Prozent der US-Patienten davon ab, zum Arzt zu gehen. 34 Prozent der in den USA Befragten gaben an, ihre Selbstbeteiligung habe 2004 über 1 000 US-Dollar betragen.

Die hat Steven nicht übrig. Seinen letzten Job hat er im Dezember verloren. Der College-Absolvent fährt Taxi und studiert nicht mal mehr. »Schau her, ich habe einen Smoking gekauft, für die Oscar-Verleihung. Wenn mein neuer Film gewinnt.« Der Smoking ist weiß. Steven streicht die Plastikfolie, die den Anzug vor dem Staub schützt, zurecht und leert Schluck für Schluck seinen »White Russian«. »Du trinkst ja gar nicht? Weißt du, nach der Diagnose habe ich Lithium genommen für ein paar Jahre, ich war sieben Jahre verheiratet. Meine Mama hat mir von Lithium abgeraten. Seit dem Spätherbst 2005 nehme ich Vitamine. Das ist meine Mama.«

Steven drapiert eine Postkarte auf der Sessellehne. Zu sehen ist eine üppige, pinkfarbene Rose auf dem Kartendeckel. In penibler Schrift steht auf der Innenseite der Karte, eingebettet in die Worte einer irischen Lebensweisheit, dass sich Steven selbst kümmern soll. Um sich, um sein Leben, um seine Existenz. Seine Mama hat ihn verlassen. Sie ist in Deutschland und jagt im Oberbayerischen ihrer spirituellen Erfüllung hinterher. Stevens Vater wollte ihn schon vor der Geburt nicht und ist mittlerweile tot.

Menschen, die an manischer Depression erkrankt sind, wechseln zwischen Phasen euphorischer Hochstimmung und totaler Traurigkeit. Die Hochphasen sind geprägt von unbändigem Tatendrang, Selbstüberschätzung, bis hin zu Größenwahn, wobei die Betroffenen oft vieles beginnen und wenig zu Ende bringen. Wie mit dem Tun ist es mit dem Denken: Ein Gedanke jagt den nächsten, ohne dass einer zu Ende gedacht wird und die Betroffenen einmal innehalten. Sie dulden keinen Widerspruch. Auffällig ist das geringe Schlafbedürfnis in diesen Hochphasen. Gleichzeitig besteht aber eine Art Getriebenheit, die den Betroffenen das Unechte ihres Zustandes oft selbst vor Augen führt, ohne dass sie sich bremsen könnten.

Bipolare affektive Erkrankungen haben nichts mit »sich gehen lassen«, mit Schuld der Betroffenen oder der Angehörigen, beispielsweise den Eltern, zu tun. Bipolare affektive Störungen werden oft als anlagebedingte Erkrankungen bezeichnet, bei denen es durch eine Art von Schwachstelle im Nervenkostüm den Betroffenen von Zeit zu Zeit nicht gelingt, die seelische Mittellinie zu halten. Werden diese Menschen erhöhtem Stress ausgesetzt, kann das eine Entgleisung der seelischen Verfassung begünstigen.

»Ja, ich kenne eine Menge Leute, die mental nicht sonderlich stabil sind. Hier und in Los Angeles. Klinische Depression, Bulimie, all das«, sagt Steven. Er war schon zwei Tage nicht mehr vor der Tür. Seine Bundfaltenhose sitzt akkurat, seine Krawatte ist perfekt gebunden. »Meine Produzentin ist de­pressiv. Sie will schnell reich werden. Eleonore sieht regelmäßig einen Psychologen. Dann hat sie mit diesem Typen geschlafen. Eine totale Primadonna.« Steven hält inne, fasst sich ans Kinn. »Ich habe in Los Angeles Jugendliche mit Problemen betreut. Drogen und so. Mann, ’ne Menge Kinder da draußen, die starke Medikamente schlucken. Das ist der Nachteil einer Gesellschaft wie der unsrigen. Es geht nur um die Wirtschaftserträge. Die wollen doch, dass all die Weißen nach Harlem ziehen und uns verdrängen. Private Investoren. Wir kümmern uns nicht um unsere Leute. Wir geben doch einen Scheiß darum, wie es dem anderen geht. Ich kenne niemanden mehr in New York. Ich bin ohne Peer Group.«

Von seinem Fenster aus schaut Mutiu Udeze direkt auf den Lake Michigan hinaus. Der ist heute grau. Düster sind auch Udezes Gedanken. Udeze ist Psychologe. Er arbeitet in Chicago mit den Menschen, die nicht reibungslos funktionieren, die auffällig sind, keine Peer Group haben. Der Nigerianer kam vor 20 Jahren mit einem Stipendium in der Tasche in die USA. »Alles, was mich hier noch hält, ist meine Tochter, die ich mit einer US-Amerikanerin habe. Und ich bin nicht einer von denen, die jenen tumben Anti-Amerikanismus propagieren, der heute so populär zu sein scheint. Im Gegenteil. Ich liebe dieses Land für seine vermeintlichen Chancen. Die Zukunftsprognose, wenn es um die mentale Stabilität seiner Einwohner geht, halte ich jedoch für nicht allzu rosig.« Udeze versinkt in einem Ledersessel, hält mit schlanken Fingern einen Kugelschreiber, mit dem er ab und an durch die Luft fährt. »Wenn Du in diesem Land staatliche Unterstützung willst, musst du dich in einem schweren Stadium der Depression befinden. Bist du nicht bipolar oder am Rande der Schizophrenie, gehörst du nicht ins Programm. Ziemlich simpel.«

Udeze erzählt von Patientinnen in Chicago, die sich um die Weihnachtszeit prostituieren, weil sie allein erziehende Mütter sind, die dem gesellschaftlichen Druck und den materiellen Erwartungen der eigenen Kinder nicht standhalten können. Er nennt dieses Phänomen »sozio-ökonomische Depression«. »Die Mehrheit meiner Patienten ist selbstredend afro-amerikanisch«, weiß Udeze und schaut aus dem großen Fenster. »Ich weiß, das klingt jetzt einfach. In meiner Heimat aber gilt: Ich leide als deine Schwester, du leidest als mein Bruder.« Und dann fügt er hinzu: »Was erwarte ich von einer Gesellschaft, die die drei folgenden Werte vereint: Geld, Sport und Unterhaltung? Zum Beispiel Baseball. Ist Ihnen aufgefallen, dass es bei all diesen amerikanischen Sportarten kaum internationale Wettbewerbe gibt? Darum geht es auch gar nicht. Man genügt sich selbst. Eine Mentalität, die sich vom Makro- auf den Mikrokosmos übertragen lässt. Naja, immerhin sieht man da wenigstens mal, wie Schwarze und Weiße sich gemeinsam freuen.«

Das amerikanische »Institut für mentale Gesundheit« veröffentlichte in einer aktuellen Studie folgende Zahlen: 26,2 Prozent der volljährigen US-Amerikaner leiden innerhalb eines Jahres an einer mentalen Krankheit oder an einer Kombination aus mehreren mentalen Krankheiten, wie beispielsweise Schizophrenie, Phobien, Essstörungen, Stimmungsschwankungen oder schweren Depressionen. Das betraf im Jahre 2004 57,7 Millionen Menschen. Mentale Instabilität ist außerdem der Hauptgrund für Arbeitsunfähigkeit in den USA. Armut spielt der Studie zufolge bei schwerer Depression eine wesentliche Rolle. Das Institut beschrieb, dass Haushalte, die im Jahre 2004 weniger als 20 000 Dollar Einkommen zur Verfügung hatten, den höchsten Anteil an klinisch depressiven Erkrankungen aufwiesen, nämlich elf Prozent. Familien, die Einkünfte von 50 000 Dollar oder mehr aufweisen konnten, hatten die niedrigste Rate an Fällen von schwerer Depression, nur sieben Prozent. Dabei waren die Zahlen in den Metropolen, kleineren Städten und auf dem Lande ungefähr gleich.

David wacht morgens um Punkt sieben Uhr auf. Jeden Morgen. Er ist in Schweiß gebadet, er würgt, hustet, rennt in seinem Zimmer auf und ab, gejagt von all den Aufgaben, die er erledigen muss und die ihn zu überrollen scheinen. David hat drei Jobs. Er ist Italo-Amerikaner, Absolvent der Columbia Elite-Universität, sein Vater einer der erfolgreichsten Sportchirurgen in New York City.

David hat Probleme, pünktlich seine Miete zu zahlen, er ist manisch-depressiv. »Weißt du, ich bin mir bewusst, dass die Krankheit mir Chancen verbaut hat in der Vergangenheit, ich weiß aber auch, dass die instabile soziale Situation in diesem Land mir nicht gerade weiterhilft und der Stress manische oder depressive Phasen begünstigen kann. Ich bin 35, habe drei Jobs – und mein Vater bezahlt meine Krankenversicherung und die Medikamente. Ich transportiere bei Fed-Ex Pakete von A nach B, macht 120 Dollar die Woche, ich lehre Englisch an einer privaten Schule, macht 160 Dollar die Woche, und arbeite als freier Journalist, da kann ich das Einkommen nie so ganz absehen – und es reicht immer noch nicht.« Seine erste, langwierige depressive Phase durchlebt David mit 29 Jahren, damals ist er Redakteur bei einem englischen Online-Magazin in Prag.

Im Jahr 2000 kommt er nach New York zurück, und die langjährige Beziehung zu seiner Freundin, die er im Sommer des gleichen Jahres heiraten will, geht in die Brüche. »Sie sagte mir damals, alles, was du brauchst, ist ein besserer Job, und ging.« David lächelt. Seine Haut im Gesicht ist transparent, die Ränder unter den Augen sind bläulich verfärbt. Er hat Gewicht verloren in den letzten zwei Monaten, irgendwas muss er immer in der Hand halten, er trinkt eine Menge Kaffee und kommt manchmal mit dem Sprechen seinen eigenen Gedanken nicht hinterher. Dann wartet er für ein, zwei Sekunden, starrt mit großen Augen ins Leere, bewegt die Lippen, bevor er fortfährt: »Du kannst nur weitermachen. Immer weitermachen. Das ist alles.«