Mehr ist mehr

Die Produktivität und die Profite der großen deutschen Unternehmen wachsen – aus denselben Gründen, aus denen hierzulande Arbeitslosigkeit und Verelendung zunehmen. von felix baum

Die Orakel der verselbstständigten Ökonomie wissen zurzeit vom nahenden Aufschwung zu berichten. Wird es dieses Jahr gar eine zwei vor dem Komma geben? So lauten die Durchhalteparolen im globalen Wirtschaftskrieg um Markt­anteile und Profitraten, mit denen das gebeutelte Fußvolk in Fabriken, Büros und Arbeitsämtern bei der Stange gehalten werden soll. Erfahrungsgemäß ist auf diese Parolen nicht viel zu geben. Aber das Spektakel beruht schon längst nicht mehr darauf, dass ihm die Menschen Glauben schenken, sondern auf seiner scheinbaren Alternativlosigkeit, die dazu zwingt, an seine Versprechen zu glauben, auch wenn sie insgeheim als fauler Zauber durchschaut sind.

Die Tendenzen der letzten Jahre scheinen eindeutig. Die Produktivität ist rasant gewachsen – in der Industrie von 1991 bis 2000 um rund 73 Prozent. Ebenfalls gewachsen sind die Gewinne der Kapitalgesellschaften. Die 30 Konzerne, die im Deutschen Aktienindex aufgeführt sind, legten allein 2004 um rund 62 Prozent zu. Auf der anderen Seite sind die Real­löhne in den letzten zehn Jahren um ein knappes Prozent gesunken, ebenso die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, auf inzwischen nur noch 38,72 Millionen Beitragszahler. Fünf Millionen Menschen sind offiziell arbeitslos, mehr als je zuvor. Gleich­zeitig müssen jene, die noch beschäftigt sind, immer länger arbeiten. Mit der steigenden Produktivität ihrer Arbeit tragen sie dazu bei, sich selbst überflüssig zu machen.

Das skandalträchtige Sinnbild all dieser Tendenzen sind die Unternehmen, die in einem Atemzug Milliardengewinne und die nächste Entlassungswelle verkünden – wie die Deutsche Bank, die Telekom, Daimler-Chrysler und zuletzt Volkswagen. Linkskeynesianer ereifern sich über »Chefs, die nur noch scheffeln«, (Institut für soziale Wirtschaftsforschung). Die Gewerk­schaften fühlen sich betrogen. Schließlich haben sie bereitwillig an der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen mitgewirkt und den Belegschaften die Arbeitsplatzgarantien als Trost für drastische Ein­schnit­te präsentiert.

Aber eine moralische Empörung über Mas­sen­entlassungen ist albern, weil die Gesetze der Ökonomie prinzipiell amoralisch sind. Für die Unternehmen gilt nur das Ziel, in einer här­ter werdenden internationalen Konkurrenz zu bestehen. In der Automobilindustrie werden die weltweiten Überkapazitäten auf rund 20 Prozent geschätzt, und das Niedriglohnland China fängt gerade erst an, mit eigenen Marken in das Geschäft einzusteigen. Die Umsatzrendite von Toyota liegt bei zehn, die von Porsche bei 17 Prozent, während Daimler-Chrysler und VW nur auf 1,1 und 1,8 Prozent kom­men. Im vergangenen Jahr waren die deutschen VW-Standorte erneut unrentabel, und bei Daimler-Chrysler sieht es wenig besser aus. Auch das ehemalige Staatsunternehmen Telekom, das in den letzten zehn Jahren bereits 100 000 Stellen gestrichen hat, agiert in einer Branche, deren Markt gesättigt ist, in der sich die Konkurrenten Preiskriege liefern und sich gegenseitig schlucken. Es gilt, die Kriegskassen für die nächsten Schlachten auf dem Weltmarkt zu füllen. Wer seine Belegschaft schont, der unterliegt.

Entsprechend schief ist die gewerkschaftliche Argumentation, wo Gewinne gemacht würden, seien Entlassungen, Lohnsenkungen oder Arbeitszeitverlängerungen fehl am Platz. Trotz der mitunter erheblichen Gewinne kommt es zu keiner Ausweitung der Produk­tion in Deutschland, krebst die Konjunktur knapp über der Stagnation herum, weil es an profitablen Investitionsmöglichkeiten fehlt. Gerade der exportstarke Sektor, auf den die Gewerkschaften gerne verweisen, beruht in immer höherem Maße auf Produk­tionsstandorten in Osteuropa oder anderen Niedriglohngebieten.

Dass die Gewerkschaften von der Wirklichkeit des Weltmarkts nichts wissen wollen, verdankt sich der schlich­ten Tatsache, dass sie wie jeder BWL-Student treudoof an die Ewigkeit des Kapitals glauben: »Wir wollen die Gesetze der Ökonomie nicht aushebeln, das geht auch gar nicht«, sagt beispielsweise Heinz Putzhammer vom Vorstand des DGB. So bleibt nur, die Interessen der eigenen Klientel mit denen der Unternehmen auszusöhnen. Jedes Anliegen muss von vornherein mit Blick auf die Verträglichkeit für die Akkumulation vorgetragen werden. Geht die IG Metall mit der Forderung nach fünf Prozent mehr Lohn in die aktuelle Tarifrunde, dann nur unter der penetrant wiederholten Beteuerung, damit die Kaufkraft und folglich den Binnenmarkt stärken zu wollen.

»Arbeiterverräter«, wie unter Links­radikalen vermehrt zu hören ist, sind die Gewerkschaften deshalb keineswegs. Solange die Lohnabhängigen selbst nicht über den Horizont der Warenproduktion hinausdenken, bleiben sie Gefangene von deren unerbittlicher Logik und haben in der Tat allen Grund, sich der Wett­be­werbs­fähigkeit des Einzelkapitals unterzuordnen, von dessen Weltmarkt­erfolg ihr eigenes Überleben abhängt. Es ist Scheinradikalismus, die Gewerkschaften als institutionalisierte Vermittlung dieses widersprüchlichen Verhältnisses anzugreifen, die diesem zugrunde liegende Misere aber von der Kritik auszunehmen.

Allerdings sickert allmählich ins Bewusstsein, dass diese Unterordnung unter die geschäftlichen Erfordernisse des Kapitals immer größere Opfer ver­langt und die eigene Existenz gleichwohl prekär bleibt. Im Jahr 2004 stimmte die Gewerkschaft bei Daimler-Chrysler einem Sparpaket von einer halben Milliarde Euro zu, und trotzdem sollen 8 500 Stellen in der Produktion und weitere 6 000 in der Verwaltung abgebaut werden. Bei Volkswagen bietet sich das gleiche Bild, und der Vorstand der Telekom erklärt freimütig, der angekündigte Abbau von 32 000 Stellen sei erst der Anfang. Währenddessen tritt klar zu Tage, dass Hartz IV nicht die Arbeitslosigkeit verringert, sondern nur das Einkommen der ausrangierten Proleten.

Massenentlassungen und Betriebsschließungen werden weiterhin das Geschehen bestimmen. Allein durch Produktionsverlagerungen in Nie­drig­lohn­län­der rechnet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag mit einem Verlust von 150 000 Arbeitsplätzen bis zum kommenden Jahr, die Unternehmensberatung Boston Consulting Group geht von zwei Millionen Stellen in den nächsten zehn Jahren aus.

Solche Zahlen sollen auch als Drohung wirken. Doch die Vorstellung, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den neuen EU-Beitrittsländern werde der Hochlohnstandort Deutschland der alte bleiben, ist absurd. Eine Debatte über die daraus entstehenden Konflikte hat noch gar nicht begonnen. Nachdem die Belegschaft von Opel in Bochum im Herbst 2004 in einen sechstägigen wilden Streik gegen Massenentlassungen trat, läuft der Streik gegen die Werksschließung von AEG Nürnberg unter der unangefochtenen Kontrolle der IG Metall. Der fällt, wenn die Gesetze der Ökonomie für das Unternehmen nur eines nahe legen, nämlich die Verlagerung der Produktion nach Polen, nur noch rabiater Nationalismus ein. »AEG ist Deutschland,« heißt es auf den Tafeln, die Arbeiter durch Nürnbergs Straßen tragen.