Schutzmacht Europa

Das EU-Parlament hat die Dienstleistungsrichtlinie verändert. Die Sozialdemokraten feiern den neuen Entwurf als Sieg des »europäischen Sozialmodells«. Bei umstrittenen Punkten herrscht weiterhin Unklarheit. von korbinian frenzel, strasbourg

Zumindest für die deutschen Zuhörer muss es ein déjà-vu gewesen sein, als Martin Schulz am Dienstag vergangener Woche eine sieben Minuten lange Siegesrede vor dem Europäischen Parlament in Strasbourg hielt. »Bolkestein existiert seit heute nicht mehr«, proklamierte der Fraktions­chef der Sozialdemokraten mit Inbrunst und einem Testosteronspiegel, der an die berühmte Fernseh­runde nach der Bundestagswahl mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder erinnerte. Doch nicht nur in der eher moderaten Abschlussdebatte zur EU-Dienstleistungsrichtlinie wirkte Schulz’ kämpferisches Plädoyer für ein Europa »als Schutzmacht der kleinen Leute in einer deregulierten Welt« überzogen. Angesichts der Beschlüsse des Parlaments zur Öffnung der europäischen Dienstleitungsmärkte vom vergangenen Donnerstag zeigte sich, wie Schulz in seiner Siegesrede übertrieben hatte.

Doch bevor es um Sieger und Verlierer gehen soll, lohnt sich ein Blick auf diese Woche in Strasbourg, die eigentlich eine große Auseinandersetzung versprach. Schließlich hatte es kaum jemals eine EU-Richtlinie geschafft, derart zu polarisieren und die Gemüter über die Grenzen hinweg zu erhitzen. Der Liberalisierungsplan des ehemaligen EU-Binnenmarkt-Kommissars Frits Bolkestein hatte womöglich sogar die Europäische Verfassung im französischen Referendum mit zu Fall gebracht und bei den Gegnern der Richtlinie die Frage aufgeworfen, ob Brüssel Europa end­gültig »neoliberalisieren« oder als »eigenes Sozialmodell« erhalten möchte. Nach einem Aufruf des Europäischen Gewerkschaftsbunds hatten sich am Dienstag voriger Woche rund 40 000 ­Demonstranten nach Strasbourg aufgemacht, um gegen die Bolkestein-Richtlinie zu protestieren.

Aber der Konsens kam ihnen zuvor und mit ihm ein Lehrstück in klassischer EU-Konfliktvermeidungspolitik. Konservative und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament hatten sich auf den Kompromiss geeinigt, der am Donnerstag verabschiedet wurde und der die Richtlinie in zentralen Punkten entschärft. In der überarbeiteten Version taucht das umstrittene Herkunftslandprinzip nicht mehr explizit auf. Hätten die Gewerkschaften und Verbände ihre Busse ins Elsass nicht schon lange vorher gebucht, wären vielleicht am Dienstag vergangener Woche sehr viel weniger gekommen. Warum jetzt noch demonstrieren? »Um den Druck aufrechtzuerhalten«, legte sich ein Verdi-Mitglied aus Stuttgart ein Argument zurecht. Bei einigen Hafenarbeitern aus Antwerpen war die Nachricht hingegen noch gar nicht angekommen. Von einem Kompromiss wüssten sie nichts. Und dass die ganze Bolkestein-Direktive gestrichen gehört, das sei nach wie vor klar und richtig.

Einen Vorgeschmack auf die Stimmung der Demo gab es bereits am Vorabend, als der Deutsche und der Österreichische Gewerkschaftsbund zum Auftakt der Ab­stimmungswoche ihren Empfang gaben. Er wolle nicht lange reden, die Argumen­te seien ohnehin schon ausgetauscht, sag­te der Vorsitzende des DGB, Michael Som­mer, bei Sekt und Kaviarhäppchen vor Abgeordneten und Journalisten. Lust­loseres Lobbying hat man im Verbände-Mekka EU wohl selten erlebt. Und selbst auf der Leidenschaftsskala des eher zurückhaltenden DGB-Vorsitzenden dürfte der Auftritt ziemlich niedrig anzusiedeln sein. Sommers österreichischer Kollege, ÖGB-Chef Fritz Verzetnitsch, war gar nicht erst erschienen. »Der Fritz hat wich­tige Tarifverhandlungen zu Hause«, entschuldigte Sommer.

Doch zurück zu der Frage, wer etwas gewonnen und wo andere verloren haben. Und da ist es richtig, dass der ursprüngliche Liberalisierungsplan der EU-Kommission mächtig zurechtgestutzt wurde. Das Herkunftslandprinzip, mit dem Libe­ralisierungsbefürworter wie Bolkesteins Nachfolger Charly ­McCreevy und auch Kommissionschef José Manuel Barroso bis zu 600 000 neue Jobs schaffen wollten, ist im Gesetz jetzt durchgehend durch den Begriff »freier Dienstleistungs­verkehr« ersetzt. Die ursprüngliche Idee, dass Unternehmen immer nur die Regeln ihres Herkunftslandes anwenden müssten, egal in welchem Land innerhalb der EU sie den Auftrag ausführen, wird durch den Beschluss des EU-Parlamentes entschärft.

Ab 2009, wenn die Richtlinie in Kraft treten soll, gilt dann etwa für einen lettischen Schneider, dass er in Deutschland seine Dienste anbieten kann, ohne zum Beispiel einen Meisterbrief vorlegen zu müssen. Deutsche Beschäftigte in seinem Unternehmen muss er allerdings – und hier ist der Unterschied zu Bolkesteins Plan – nach deutschem und nicht nach lettischem Tarifrecht bezahlen.

Die Legalisierung von Lohn- und Sozialdumping, freuen sich die Sozialdemo­kraten, sei damit vom Tisch. Dass sich mit ihnen der Dachverband der europäischen Gewerkschaften freut, während der mäch­tige europäische Unternehmerverband Unice von einer »verpassten Chance für Wachstum« spricht, bestätigt die Siegeserklärungen vieler Befürworter des neuen Entwurfs, wonach von der ursprünglichen Version kaum etwas übrig geblieben sei. »Die Dienstleistungsrichtlinie in ihrer jetzigen Form wird niemandem schaden«, weiß Heide Rühle, Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament. Letztlich, so die Bolke­stein-Expertin, beschreibe der Text die bereits jetzt geltende Rechtslage in der EU – nicht mehr und nicht weniger.

Was bleibt, sind aber zahlreiche offene Fragen, die bereits jetzt zu mehreren Dutzend Prozessen vor dem Europäischen Gerichtshof geführt haben. Denn zum Beispiel in der Definition dessen, was »schützenswerte Bereiche des Staates« sind und welche den Märkten geöffnet werden müssen, herrschen durchaus unterschiedliche Vorstellungen im Europa der 25. Hier bleibt auch die vom Parlament überarbeitete Richtlinie schwammig. Durch zahlreiche Ausnahmeregelungen – so sind etwa Bestattungsunternehmen wie auch öffentliche Krankenhäuser von der Wirkung der Richtlinie ausgenommen, privat betriebene Krankenhäuser unter öffentlicher Aufsicht hingegen nicht – wird die Dienst­leistungsrichtlinie nach Meinung von Europarechtlern zu noch mehr Unklarheit führen. Und zu neuen Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof.

Die Luxemburger Richter mögen auch den Konservativen und Liberalen im Parlament in den Sinn gekommen sein, als sie für den Kompromiss stimmten, der in weiten Teilen ihren Vorstellungen von einem marktliberalen Europa widerspricht. Ihre parlamentarische Niederlage könnte sich schon bald als versteckter Sieg herausstellen. Denn die unklaren Regelungen aus der Dienstleistungsrichtlinie werden nach und nach vor dem Europäischen Gerichtshof landen. Und der, das ist ein ungeschriebenes Gesetz in der EU, ist in seinen Entscheidungen konsequent marktliberal. Das Herkunftslandprinzip, von der Politik verbannt, käme so durch die juristische Hintertür machtvoll zurück. Denn anders als Parlamentsentscheidungen sind die Urteile des Gerichtshofs nicht re­vidierbar.

Der Fraktionschef der Liberalen im EU-Parlament, Graham Watson, konnte sich deshalb in seiner Reaktion auf die Rede von Martin Schulz offenbar nicht zurückhalten. »Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen versichern, dass Frits Bolkestein quicklebendig ist.«