Die Platte bebt

Für Berlins Rockmusiker ist ein Hochhaus im Bezirk Marzahn die wichtigste Adresse. von sebastian krüger

Der Fußboden bebt, die Wände vibrieren. Es sind keine tektonischen Verwerfungen, welche das Orwo-Haus in Berlin-Marzahn erschüttern, sondern eine kraftvolle Mischung aus Rock’n’Roll, Punk und Death Metal. In dem siebengeschossigen Plattenbau gehen rund 600 junge Musiker dem Wichtigsten in ihrem Leben nach: der Erzeugung von harter, lauter Rockmusik.

Hendrik und Sebastian träumen nicht vom großen Erfolg. Ihnen geht es um das Lebensgefühl, das Deutschlands lauteste Platte ermöglicht. Die beiden 26jährigen bezeichnen sich als »ganz normale Rocker« und sehen mit ihren langen Haaren und den fleckigen Jeans auch so aus. Tagsüber sind sie an der Universität und auf dem Bau, abends sind sie hier. Die Wände des Raums, den sie mit acht anderen Musikern teilen, sind mit abgetretenen Perserteppichen, Filzmatten und Eierkartons behängt. Auf dem Betonfußboden liegt ein Decken­fluter und verbreitet kaltes Licht. Das Ganze sieht aus wie eine Werkstatt und funktioniert auch so. Die Band hat weder einen Namen noch eine feste Besetzung. Wer kommt, spielt mit. So klingt es jedes Mal anders und neu. Hendrik zeigt mit dem Daumen zur Wand. »Mit der Band nebenan sind wir befreundet.« Man leiht Instrumente und manch­mal auch sich selbst aus.

Orwo steht für »Original Wolfen«. Das Haus wur­de in den achtziger Jahren von der gleichnamigen Firma als Fabrikgebäude genutzt. Der DDR-Betrieb produzierte Filme, Tonbänder und Kassetten und hatte seinen Hauptsitz in Wolfen im Chemie­dreieck Leuna-Buna-Bitterfeld. Das Berliner Werk ging nach der Wende in den Besitz der Treuhand über, doch niemand wollte in das Gebäude oder den Rest des verwahrlosten Gewerbegebiets ­investieren. Es ist so abgelegen, dass die Betonpfade durchs mannshohe Unkraut bis heute lediglich Nummern tragen.

Im Jahr 1998 wurde die leer stehende Platte von Nachwuchsrockern auf der Suche nach geeigneten Proberäumen entdeckt. Hier konnten sie ungestört ihrer brachialen Leidenschaft frönen, 24 Stunden am Tag. Der Geheimtipp der Szene wurde schnell überregional bekannt: Udo Lindenberg rekrutierte zwei Orwo-Bands für sein Vorprogramm, Jeannette Biedermann rockte sich hier vor jeder neuen Tour warm. Derzeit zählt die Gruppe Silbermond zu den prominentesten Mietern.

Der Plattenbau in Marzahn ist die Brutstätte des Hauptstadt-Rock. Andreas Otto, der Sprecher des Vereins Orwo-Haus, schwärmt von der musikalischen Dynamik des Hauses. »Wir sind ein Magnet für die Musiker der ganzen Region. Hier spielen sie zusammen und probieren sich aus. Ständig entstehen neue Formationen und Stilrichtungen. Aller­dings sind wir ziemlich rocklastig«, gibt der 21jährige zu, der selbst Mitglied einer im Haus ansässigen Band ist. »Wir müssen noch ausgewogener wer­den.« Erst kürzlich kam eine Reggae-Big-Band da­zu, ein holländisches Elektro-Club-Projekt ist schon länger dabei.

In der dritten Etage sitzt Felix hinter einer schall­dichten Tür. Der drahtige 23jährige trägt eine Strub­belfrisur und zwei T-Shirts übereinander. Er hat einiges in seinen Raum investiert: Zeit, Arbeit und vor allem Geld. Wie viel ge­nau, will er lieber nicht ausrechnen. »Bands aus dem Haus können hier ihre CDs einspielen. Kommerzielle Studios sind für die unbezahlbar, ich mach’s für’n Appel und ’n Ei.« Gerade tüftelt er am Sound einer Punkband herum. Konzentriert schiebt er die Regler der digitalen Bandmaschine auf und ab und versucht, aus dem kratzenden Geschrammel das Beste herauszuholen. Von außen dringt kaum Licht in das selbstgebaute Studio. Die Fenster wurden seit dem Ende der DDR nicht mehr geputzt. Wo Platz ist, stehen volle Aschenbecher, leere Flaschen und verstaubte Plüschtiere. An der Tür zum Aufnahmeraum hängt eine Dartscheibe. Eine durch­gesessene Couch lädt zum Relaxen ein, ein Schachspiel zum Abschalten. Täglich zwölf Stunden verbringt der gelernte Koch in diesem Idyll. »Es macht Spaß, kreativ zu sein.«

Mit der Existenz des Orwo-Hauses stand im Jahr 2004 auch die von Felix auf dem Spiel. Wegen Brandschutzmängeln hatte der Eigentümer allen Mietern gekündigt, Wachschützer sperrten das Gelände mit Stacheldraht ab. Doch kaum jemand kam der Räumungsklage nach: Die Musiker, die die Platte betraten, blieben einfach drin – und feierten wochenlang im Belagerungszustand. Wer neben den musikalischen auch bürokratische Talente besaß, stellte sie in den Dienst der Sache. Ein Verein wurde gegründet, ein Förderkonzept entstand. Im April 2005 erwarb der Verein das Gebäude für 340 000 Euro, der brandschutzgerechte Umbau begann. Bald werden auch die letzten 30 der rund 100 Probe­räume fertig sein. Täglich fragen ein bis zwei Anrufer im Vereinsbüro nach freien Räumen. Die Zahl der Bewerber auf der Warteliste geht in die Hunderte.

Magda, Yang und Jenny mussten nicht lange warten. Über eine andere Band schlüpften sie mit ins Haus hinein und nun vergrößern sie die weibliche Fraktion des Orwo-Hauses. Sie sind 18, 19 und 20 Jahre alt und nennen sich »Nobel­schrott«. Zusammen spielen sie erst seit wenigen Monaten, doch das mit aller Kraft. »Dreimal die Woche fünf Stunden«, sagt Sängerin Jenny. »Weniger ist Mist. Nach zwei Stunden ist man warm, und nach dreien wirst du erst kreativ.« Zunächst hatten die drei einen Proberaum in Lichtenrade, im Südwesten Berlins. »Dort konnten wir aber bloß einmal die Woche für zwei Stunden rein. Da vergisst man doch alles bis zum nächsten Mal!«

Der Drummerin Yang dauert die Pause schon wieder zu lang. Sie brüllt »Attacke!« und beginnt auf ihr Schlagzeug einzudreschen. Ihre Kolleginnen greifen so heftig in die Saiten, dass die Luft zu zittern scheint. In jeder Session machen sie ein neues Lied. Das neueste heißt »Mikrowelle« und handelt von Handys, Meerschweinchen und Brötchen, die in das Küchengerät gesteckt werden. Die anderen Songs heißen »Spatzen«, »Altlasten«, »Pechtag« oder »Danke«, letztgenannter ist die Neuvertonung eines bekannten Kirchenlieds. Berufsmusikerinnen wollen sie aber nicht werden. »Außer wir werden berühmt!« sagt Magda, die Bass spielt.

Der Verein Orwo-Haus hat noch viel vor. Merchandising, Booking und die Produktion von CDs sollen künftig unter dem flachen Dach des Plattenbaus möglich sein. Der große Lagerraum im Erdgeschoss wird gerade zum Konzertsaal umgebaut. Der Sprecher Andreas Otto ist überzeugt, dass das Konzept einer »Musikfabrik« aufgehen und das Haus sich finanziell tragen werde. Er ist Schlagzeuger, wie die meisten im Verein. »Das zeigt mal wieder, wer der Wichtigste ist: Der Drummer zählt vor und hält alles zusammen.« Kürzlich beschloss das Bezirksparlament von Berlin-Marzahn, die »Straße 13«, an der das Orwo-Haus steht, in »Frank-Zappa-Straße« umzubenennen. Die Taufe findet Mitte dieses Jahres statt.

www.orwo-haus.de, www.nobelschrott.de.ki