Die neue Reiseroute nach Europa ist da

Etwa ein Drittel aller Flüchtlinge, die versuchen, die Kanaren zu erreichen, stirbt auf dem Weg ­dorthin. Das Risiko schreckt dennoch nur die wenigsten. von alfred hackensberger, tanger

Im Norden Marokkos ist es derzeit ruhig. Einige tausend Immigranten warten in ihren Wintercamps auf besseres Wetter. In ein paar Wochen ist wieder an eine Überfahrt nach Spanien zu denken. Auch auf die Chance, über den Grenz­zaun der spanischen Exklave Ceuta zu klettern, müssen sie noch warten. Nach den Ereignissen im Oktober vergangenen Jahres, als einige hundert Immigranten den Grenzzaun dort stürmten, herrscht noch immer erhöhte Alarmbereitschaft.

Viele der jungen Männer und Frauen aus dem subsaharischen Afrika bedauern, die Marokko-Route nach Europa gewählt zu haben. »Wenn ich die Nachrichten höre«, sagt Jeffrey, der sich seit zwei Jahren in der Altstadt von Tanger versteckt, »dann möchte ich am liebsten meine Sachen packen und in den Süden fahren. Am besten gleich nach Mauretanien und – schwupp, wäre ich in Spanien, und das für wenig Geld.« Er flucht und stampft mehrmals ärgerlich mit dem Fuß auf den Boden.

Anders als in Tanger, wo eine Bootsfahrt nach Europa 1 000 Euro kostet, musste jeder der rund 5 000 Flüchtlinge, die in den ersten drei Monaten dieses Jahres aus Mauretanien zu den Kanarischen Inseln aufbrachen, nur etwa 500 Euro bezahlen. Dafür ist das Risiko auf der fast 800 Kilometer langen Seereise um einiges größer als bei der Über­querung der 14 Kilometer zwischen der Nordspitze Afrikas und Spanien. Alleine in diesen drei Monaten sind etwa 1 500 Menschen auf der Überfahrt zu den Kanarischen Inseln im Meer ertrunken oder in den Booten verhungert und verdurstet.

In der Meerenge von Gibraltar werden die Boote der Immigranten leichter entdeckt, aber vor allen Dingen auch schneller aufgebracht. Auf den Kanarischen Inseln existiert zwar seit einigen Jahren ebenfalls ein »integriertes elektronisches System zur Außenüberwachung«, es konnte aber nicht alle Boote erfassen. Erst vor kurzem wurde das System mit mobilen Radarstationen auf LKW für 1,2 Mil­lionen Euro erweitert, was mehr Kontrolle bringt, aber auch die Überlebenschancen der Flüchtlinge erhöht.

Die Kanaren-Route scheint unter Flüchtlingen und Menschenhändlern derzeit offensichtlich Schmuggelweg Nummer eins zu sein. Im vergangenen Jahr versuchten die meisten Immigranten, über Marokko und Gibraltar nach Spanien zu kommen. Die Kanarischen Inseln registrierten im Jahr 2005 nur 4 700 Immigranten. Ein Jahr zuvor war das noch ganz anders, damals erreichten 8 500 Menschen aus Afrika die spanischen Inseln. Eine Veränderung, die sich infolge der Sicherheitsmaßnahmen von Polizei und Militär der beteiligten Länder ergab, aber insbesondere auch den Neuerungen in der Einwanderungspolitik geschuldet war.

Die Behörden in Mauretanien stehen der Migration hilflos gegenüber. Die Einwohner von insgesamt 16 afrikanischen Nationen können in das Land ohne jedes Visum einreisen. Zeitungen berichten von 12 000, andere von 15 000 oder sogar von 30 000 Menschen, die in Mauretanien, zum größten Teil in der nördlichen Provinz des Landes Nouad­hi­bou warten, der BBC zufolge in 15 von der Mafia organisierten Camps. Niemand weiß genau, wie viele es tatsächlich sind. Der Gouverneur von Nouadhibou, Yahya Ould Sheik Mohamed Vall, schätzt, dass »jeden Monat etwa 1 000 Afrikaner aus der Subsahara ankommen«. Er bräuchte etwa 200 000 Euro im Monat, um die Lage einigermaßen zu kontrollieren, sagte er zu einer spanischen Delegation.

Fast alle Immigranten kommen aus den Nachbarländern Mali und dem Senegal.

Der Rest aus »Südostasien oder auch aus Lateinamerika«, wie Mustaf Ould Saleh vom Roten Halbmond behauptet. »Es sind alle Ausländer, denen wir hier mit Wasser und Nahrungsmitteln helfen.«

In Nouadhibou herrscht sicherlich so etwas wie Goldgräberstimmung. Denn alles scheint Gerüchten zufolge sehr einfach zu sein: Ohne jegliche Kontrollen besteige man ein Boot, und schon sei man auf europäischem Boden. Die 500 Euro, die ein Platz in einem hölzernen oder aus Fiberglas produzierten »Pirogue« kostet, werden von der Familie gesammelt, oder man nimmt eben einen Kredit auf. Die Reise nach Mauretanien ist relativ kurz und lange nicht so beschwerlich wie in den Norden Marokkos. Boote werden gebaut, repariert, verkauft, »Fixer« handeln mit Plätzen, als ginge es um einen Sitz im Sammeltaxi in die nächste Ortschaft. »Nächste Station Kanarische Inseln. Alles einsteigen, bitte!« An die möglichen Gefahren denkt kaum jemand. »Stirb oder gewinn ist das Motto«, sagte ein Senegalese zu einem Journalisten des arabischen Fernsehsenders al-Jazeera. »Mit jeder Stunde, die ich hier verliere, verliere ich auch einen Teil meiner Zukunft.«

Für diejenigen, die nicht auf der Überfahrt sterben, wie es etwa einem Drittel aller Flücht­linge passiert, sieht die Zukunft allerdings wenig rosig aus. Auf den Kanarischen Inseln kommen sie in Sammellager und können sich nicht, wie etwa in Ceuta oder auf dem spanischen Festland, frei bewegen. Nur wenn das Lager voll ist, werden einige auf das Festland ausgeflogen, was der ersehnte Wunsch aller ist. Tatsächlich, wer Arbeit und Wohnung findet, kann nach dem geltenden spanischen Einwanderungsgesetz kaum mehr ausgewiesen werden.

Aber die spanische Regierung hat bereits die Deportation der Immigranten, die in den vergangenen Monaten auf den Kanaren gelandet sind, angekündigt. 170 Afrikaner wurden für den ersten Rücktransport bereits ausgewählt. Bei einem Besuch in Teneriffa sagte die stellvertretende Premierministerin, Maria Teresa Fernandez de la Vega, dass die Im­mi­gran­ten so schnell wie möglich nach Mauretanien zurückgebracht werden. »Wir müssen klarmachen«, sagte sie, »dass alle, die illegal ins Land gekommen sind, es auch wieder verlassen müssen.«

Doch die Behörden des westafrikanischen Staats kündigten an, dass man nur die Rückkehr von Staatsangehörigen aus Mali und dem Senegal akzeptieren werde. Damit ist Spanien etwa 90 Prozent der Flüchtlinge los. Aber man kann sicher sein, dass nach den ersten medienwirksamen Deportationen der Strom der Immigranten zu den Kanarischen Inseln von selbst sehr schnell wieder auf das Normal­ni­veau zurückgehen wird. Die zusätzlichen Überwachungsmaßnahmen, wie etwa das zwei Millionen Euro teure EU-Projekt »Seepferd«, das eine bessere Zusammenarbeit der betroffenen Länder bewirken soll, sind letztlich nicht entscheidend.

Die Flüchtlingsmafia sucht andere Routen oder reaktiviert altbekannte. Die Maureta­nien-Connection hat sich für sie erst einmal bezahlt gemacht, und das besser als jede andere zuvor. In wenigen Wochen 2,5 Millionen Euro Umsatz, das kann sich sehen lassen.