Straße nach Guantánamo

Al-Masri, Guantánamo und Roger Willemsen. von andreas fanizadeh

Seit dem 11. September und den Anschlägen in Madrid und London hat sich die Akzeptanz »harter« Polizeimethoden in der westlichen Welt erhöht. Umgekehrt ist aber auch die Zahl derjenigen gewachsen, die einen Zusammenhang zwischen dem Bruch rechtsstaatlicher und völkerrecht­licher Normen durch »den« Westen und dem islamistischen Terror sehen. Islamisten mögen sich selber keinen Deut um die Einhaltung universell geltender Menschenrechte kümmern. Dennoch, so glauben viele, dürfte der Kampf gegen den Islamismus genau auf diesem Terrain gewonnen werden. Anderenfalls, so die Befürchtung, könnte der jetzige Ausnahmezustand zum Normalzustand werden und die Welt sich umfassend in ein xenophob-darwinistisches Schlachtfeld verwandeln.

Fliegen mit der CIA

Die Logik von Folter und juristischer Willkür hat viele Facetten. Da gibt es zum Beispiel den Fall des deutschen Staatsbürgers Khaled al-Masri. Der in Ulm lebende Mann befindet sich Silvester 2003 auf einer Reise an der mazedonisch-serbischen Grenze. Dort wird er von mazedonischen Beamten verhaftet und an die CIA übergeben. Er bekommt das volle Programm zu spüren: Todesdrohungen, Flugreisen mit verbundenen Augen, Vegetieren in irgendwelchen Drecklöchern in Afghanistan. Die US-Agenten interessieren sich vor allem für die Ulmer Islamisten-Szene. Monate später wird al-Masri nach Deutschland zurücktransportiert. Als er in Ulm wieder auftaucht, wiegt er 30 Kilo weniger.

Offiziell gibt es keinen Fall al-Masri. Inoffiziell räumten US-Vertreter eine Namensverwechslung mit einer Person ein, die im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September gesucht würde. Al-Masris Anwalt Manfred Gnjidic glaubt nicht an eine »Verwechslung«. Zwischen den Verhören in Afghanistan und den Anschlägen vom 11. September ergäben sich keinerlei Verbindungen. Die Gründe des Kidnappings müssten woanders liegen.

Nur wo? Gegen al-Masri liegt nichts vor. Dies sagen die deutschen Ermittler, die wegen seiner Entführung ein Verfahren eingeleitet haben. Sie haben seine Aussagen auf ihre Richtigkeit hin überprüft. Das europäische Parlament beschäftigt sich mit dem Fall, ebenso demnächst ein Untersuchungsausschuss des deutschen Bundestags. Und in den USA liegt da­zu eine Klage gegen den früheren CIA-Chef George Tenent vor.

Die Insel der Abschreckung

Dem Schweizer Ständerat Dick Marty zufolge, der für die EU den Antiterrorkampf der CIA in Europa untersucht, ist die Verschleppung al-Masris kein Einzelfall. Von etwa 100 Menschen ist die Rede, die aus Europa in so genannte Folterstaaten wie Ägypten oder Syrien entführt wurden.

Interessanterweise kennt das US-System des Antiterrorkampfs aber auch den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Seit Jah­ren werden so genannte feindliche Kämpfer in US-Militärgefängnisse wie Guan­tá­na­mo auf Kuba verbracht. Die Gefangenen in Guantánamo blieben dort jahrelang anonym, obwohl sie gleichzeitig in Käfigen und orangefarbenen Over­alls öffentlich zur Schau gestellt wurden. Im März wur­den die US-amerikanischen Behörden durch eine Klage der Presseagentur AP gezwungen, geheime Verhördokumente aus Guan­tánamo freizugeben. Seitdem sind etwa 5 000 Seiten Verhörprotokolle von 317 nun namentlich bekannten Gefangenen einsehbar. Natürlich weiß man nicht, was weiter geheim gehalten wird und was nicht. Nach Angaben des Pentagon sollen insgesamt 490 Menschen in Guantánamo einsitzen. Aber ein Teil der ungeordnet auf der Homepage des Pentagon veröffentlich­ten Protokolle macht nicht den Eindruck, als ginge es im Militärgefängnis Guan­tá­na­mo um die Gewinnung besonders relevanter Daten. (www.defenselink.mil/pubs/foi/detainees/csrt/)

Eher erwecken die Mitschriften den Eindruck, als verliefen die Verhöre un­aufgeregt und routiniert. Die eine Seite weiß, dass sie nichts erfahren wird, die andere will oder hat ganz einfach nichts preiszugeben. Ein Mann möchte sich an der Waffe nur für die Hasenjagd in Sau­di-Arabien ausgebildet haben, andere sehen sich als religiöse, aber unpolitische Gemüsebauern.

Es ist nicht leicht, über die moralische Empörung hinaus eine Antwort zu finden, was da vor sich geht und welchen Sinn es haben soll. Jedenfalls spielt der individuelle Nachweis von Schuld und Unschuld in Guantánamo eine untergeordnete Rolle. Anscheinend soll die Käfighaltung vor allem der symbolischen Abschreckung und Demoralisierung eines weltweit operieren­den islamistischen Milieus dienen. Um »schmutzige Folter«, wie sie die Bilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib dokumentieren, scheint es weniger zu gehen. Die Gefangenen unterliegen vor allem der so genannten weißen Folter, Praktiken, die keine unmittelbar sicht­baren körperlichen Spuren hinterlassen.

Hier fragt Willemsen

Sollten sich unter den Häftlingen von Guan­tá­na­mo Verbrecher befinden, ihr begangenes Unrecht bliebe durch die Entindividualisierung und wegen des Fehlens einer rechtlichen Grundlage für ihre »Bestrafung« ungesühnt. Tatsächlich begangene Menschenrechtsverbrechen der Taliban oder anderer islamistischer Gruppen in Afghanistan werden hier nicht aufgeklärt und scheinen für die Idee des Lagers auch keine große Rolle zu spie­len.

Das hat Konsequenzen: Täter können sich schnell als Opfer betrachten und entsprechend darstellen. Immer häufiger richtet sich auch aus diesen Milieus eine menschen­rechtliche Kritik gegen »die« USA und ihre Verbündeten. Die grausamen Verbrechen der Taliban oder anderer Gruppen beginnen hingegen, im Bewusstsein vieler zu verblassen.

Dies wird auch bei der Lektüre des gerade erschienenen Buches von Roger Willemsen, »Hier spricht Guantánamo«, deutlich. Willemsen, deutscher Feuilletonist, lässt in dem Interviewband fünf ehemalige Häftlinge aus Guan­tá­na­mo zu Wort kommen. Ein Teil der Fragen zielt auf die Haftbedingungen, ein anderer auf die biografische Vorgeschichte, die politische Laufbahn der Männer. Doch die politischen Selbstdarstellungen bleiben gänzlich unüberprüft. Keine Gegenrecherche. Nichts.

Wer so wie Willemsen an die Dinge herangeht, bekommt die Antworten, die er braucht. »Die fünf Häftlinge vereinigte in ihrem Auftreten und ihrer Erscheinung eine eigene Festigkeit und Haltung, hinter der man den Grund vermuten möchte für jene Unzerstörbarkeit, die sie in Guan­tá­na­mo bewiesen.« Bereits im Vorwort ersetzen gestelzte Formulierungen die Analyse. Es erstaunt die Emphase des Interviewers für Männer, die sich immerhin als Anhänger und Mitläufer von Unrechtsregimes zu erkennen geben. In der Kritik an Guan­tá­namo und den USA steht Willemsen blind vor islamistischen Ideologien und Regimes. Der rasende Re­porter erhebt in seinen Interviews selbst ­Ta­liban-Funktionäre wie Abdulsalam Daeef in den Rang einer verfolgten Unschuld.

Der frühere Taliban-Botschafter in Pa­kis­tan wird vom Autor zur Anklage gegen die USA ermutigt. »Sie müssen geahnt haben, dass es in dieser Situation keinerlei Rechts­sicherheit für Sie gab.« So naiv stützt Willemsen die Aussagen seiner Gesprächspartner, wenn sie den Zusammenbruch des alten Regimes und ihre Verhaftung schildern. Wie kann ein europäischer Großfeuilletonist ignorieren, dass es so etwas wie die behauptete »Rechtssicherheit« unter einem Taliban-Regime nie gab? »Orientschwärmerei« ist ein sehr freundliches Wort (aus einer der Rezensionen) für ein solch unreflektiertes Schwadronieren.

Der grundlegende Fehlschluss von Willemsen ist es zu glauben, wer aus Guan­tá­namo ent­lassen werde, sei ein »unschuldiger« Mensch, das reine Opfer. Genauso we­nig ergibt der Um­kehrschluss Sinn, wer in Guantánamo weiter sitzt, sei ein Schuldiger. Den USA geht es mit Guantánamo eben nicht um individuelle Aufklärung sondern um kollektive Abschreckung.

Die politische Ablehnung von Guan­tá­namo oder Gefängnissen wie Abu Ghraib oder Bagram durch Kritiker in allen Teilen der Welt hat ihren Grund in den dor­tigen Zuständen und hat nichts mit einer Verniedlichung oder Romantisierung der möglichen Absichten und Ziele der Inhaftierten, ihrer möglicherweise begangenen oder nicht begangenen Taten zu tun.

Hätte die CIA Khaled al-Masri verschwinden lassen dürfen, wenn er tatsächlich etwas über den 11. September gewusst hätte? Sicher nicht. Man hätte ihm nach rechtsstaatlichen Kriterien in Deutschland ein Verfahren zugestehen müssen, in dem er sich im Schutze von Öffentlichkeit und praktizierter Gewaltenteilung hätte verteidigen können. Ebenso hat auch ein Fanatiker und notorischer Menschenrechtsbrecher wie Abdulsalam Daeef ­einen ordentlichen Prozess zu erwarten, statt jahrelang ohne Anklage in Guantánamo zu schmoren. Menschenrechte müssen gerade auch für gefangengenommene »feindliche Kämpfer« gelten. Deswegen braucht man sich allerdings noch lange nicht zu deren politisch-propagandistischem Fürsprecher zu machen. Rationalisierende Nüchternheit statt emotionalisierender Betroffenheit ist dringend geboten.

Roger Willemsen: Hier spricht Guantánamo. Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2006, 238 Seiten, 12,90 Euro