Bomben und Kugeln

In der Türkei verschärft sich die gewalttätige Auseinandersetzung zwischen der kurdischen Guerilla und dem Militär. von sabine küper-büsch, istanbul

In der Istanbuler Innenstadt gelten derzeit Sicherheitsvorkehrungen wie nach den islamistischen Bombenanschlägen im Jahr 2003. Am vorletzten Wochenende trennte die Polizei in Dolapdere, nahe dem Zentrum Taksim, kurdische Demonstranten von Roma und Sinti, die mit Messern und Prügeln bewaffnet waren. Die Roma und Sinti wollten eine Ausweitung der Ausschreitungen und Brandanschläge auf den von ihnen bewohnten Stadtteil verhindern. Ihre Sprechchöre (»niemand teilt das Vaterland«) erinnerten allerdings mehr an die Propaganda türkischer Ultra-Nationalisten und bedeuten ein trauriges Novum, denn bislang hatten Roma und Sinti mit den kurdischen Nachbarn in relativer Eintracht zusammengelebt.

In der Stadt sinkt die Toleranz gegenüber gewalttätigen Kurden, weil die Anschläge, die durchweg unbeteiligte Zivilisten treffen, politisch nicht vermittelbar sind. So starben am 2. April in Istanbul drei Menschen bei einem Brandanschlag auf einen Autobus. Zwei Tage zuvor war ein Straßenverkäufer in einem Istanbuler Außenbezirk bei einem Bombenanschlag der »Freiheitsfalken Kurdistans«, die dem Umfeld der PKK zugerechnet werden, getötet worden, 13 Menschen wurden verletzt, drei von ihnen schwer.

Die Ausschreitungen begannen Ende März in Diyarbakir während der Beerdigung von drei im Kampf mit dem türkischen Militär getöteten PKK-Mitgliedern. Sechs kurdische Demonstranten, darunter zwei Kinder, kamen bei anschließenden Straßenschlachten ums Leben. Während sich die Lage in Diyarbakir während des folgenden Wochenendes entspannte, gab es in anderen Städten der Region Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei, die Tränengas und Wasserwerfer einsetzte. In Kiziltepe bei Mardin kam dabei ein Demons­trant ums Leben, in der Stadt Batman wurde ein dreijähriger Junge während eines Polizeieinsatzes von einer Kugel tödlich getroffen

Die türkische Nationalversammlung bereitet derweil eine Verschärfung der Anti-Terror-Gesetze vor. Zugleich erklärte Ministerpräsident Tayyip Erdogan, das bedeute keine Abweichung vom eingeschlagenen Reformkurs. Tatsächlich ermöglichen die Gesetzesänderungen vor allem eine Verlängerung der Untersuchungshaft. In der Vergangenheit war dies stets die Basis für brutale Verhörmethoden und Folter gewesen. Dementsprechend warnen türkische Menschenrechtsaktivisten wie der Vorsitzende der Menschenrechtsstiftung, Yavuz Önen, dass Terroreindämmung nicht durch Gesetzesverschärfungen zu erreichen sei.

Die Reformen der Regierung reichen bislang bei weitem nicht aus, um das ideologische Vakuum, das nach dem offiziellen Ende des bewaffneten Kampfes der Kurden entstanden ist, zu füllen. Zugleich werden vor allem in den Gebieten des türkischen Südostens Machtkämpfe innerhalb der lokalen Institutionen und Stadtverwaltungen ausgetragen. Viele Positionen sind in der Vergangenheit proportional zur Machtverteilung in den pro-kurdischen Parteien mit Kurden, die der PKK nahe stehen, besetzt worden. Diese Funktionsträger werden vor allem von dem Teil der Guerilla, der in den nordirakischen Bergen sitzt, stark unter Druck gesetzt, um eine Amnestie für die Kämpfer und Abdullah Öcalan auszuhandeln. Eine Forderung, die derzeit keine türkische Regierung erfüllen kann.

Die Oberstaatsanwaltschaft von Ankara forderte vergangene Woche, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte empfohlene Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Öcalan abzulehnen. Klug wäre es sicherlich, die Haftbedingungen des prominenten Gefangenen zu verbessern. Er sitzt seit 1999 in Einzelhaft. Doch bislang argumentieren sowohl der Guerilla nahe stehende Kurden als auch die staatlichen Entscheidungsträger immer nur mit Forderungen.

Die PKK schreckt auch nicht davor zurück, Kritiker in den eigenen Reihen zu eliminieren. Damit hat sie sich im vergangenen Jahr allerdings selbst geschadet. Am 7. Juli ermordeten der PKK nahe stehende Kurden den ehemaligen stellvertretenden Parteivorsitzenden der inzwischen verbotenen pro-kurdischen Demokratiepartei des Volkes (Hadep), Hikmet Fidan. Er hatte unter anderem die Politik der Partei Demokratie-Plattform (DTP) kritisiert, die im Umfeld von Leyla Zana, der ehemaligen Abgeordneten der Demokratiepartei (DEP), entstand. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Zana, die eine moderate Politik vertritt, sich auf Geheiß von Öcalan im Hintergrund halten muss, weil der PKK-Führer keine Konkurrenz an der Spitze der kurdischen Bewegung duldet. Die DTP wird inzwischen von vielen Kurden als Marionettenverein Öcalans kritisiert. Das erhöht die Spannungen in dem Flügel der Guerilla, der der PKK nahe steht.

Für Ärger in der Türkei sorgt zudem, dass Angehörige des Generalstabs um einen Machterhalt kämpfen. Zentral dabei ist, die eigene Unverzichtbarkeit zur Bekämpfung einer gefährlichen Terrororganisation unter Beweis zu stellen. Anders als in der Vergangenheit hat der Generalstab nicht mehr die bedingungslose Unterstützung der türkischen Regierung. Die Regierungspartei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) sah Ende vergangenen Jahres die Chance, wegen eines erneuten »Kontraguerillaskandals« in der Provinz Hakkari eine parlamentarische Untersuchungskommission einzuberufen und die Machenschaften des Militärs öffentlich zu thematisieren. In Semdinli war am 9. November 2005 ein Sprengsatz explodiert, der einen Kurden tötete. Es stellte sich heraus, dass Unteroffiziere der Jandarma, einem Teil der türkischen Streitkräfte, die Verantwortlichen dafür waren. Die Staatsanwaltschaft von Van ermittelt inzwischen sogar gegen den designierten Generalstabschef, Yasar Büyükanit, dem während seiner Zeit als Oberbefehlshaber von Diyarbakir Amtsmissbrauch nachgesagt wurde. (Jungle World, 11/06)

Nun nutzen die türkischen Streitkräfte jede Chance, bei Kurdenkrawallen starken Gegendruck auszuüben. Aus der Provinz Sirnak wurde vergangene Woche der Verlust von sechs türkischen Soldaten bei heftigen Gefechten mit der kurdischen Guerilla gemeldet. Dabei strotzt keine Provinz so vor Militär wie Sirnak. Wie in Zeiten des Ausnahmezustands wurden in den Bergen von Sirnak erstmals wieder Spezialeinheiten der Jandarma stationiert.

Der Demokratisierungsprozess in der Türkei ist stark von der Vergangenheit belastet. Unklar ist, ob die türkische Regierung und die Zivilgesellschaft in der Lage sind, den Kurdenkonflikt mit politischen Mitteln in den Griff zu bekommen.