Das singende Pulverfass

Wer wird denn hier weinen? Das neue Album von Morrissey ist vor allem amüsant, meint markus ströhlein

Sollten Sie demnächst einen freien Tag haben, versuchen Sie doch einmal folgendes: Denken Sie sich eine todtraurige Melodie in einer Molltonart Ihrer Wahl aus. Begeben Sie sich dann an einen Ort, an dem möglichst viele Leute anzutreffen sind. Suchen Sie sich eine Ecke aus, an der Sie gut sichtbar sind, und machen Sie auf sich aufmerksam. Rufen Sie sich Ihre Melodie ins Gedächtnis, und stimmen Sie aus voller Brust diese Worte an: »Ich habe explosive Pulverfässer zwischen den Beinen.«

Das Aufsehen, das Sie erregen, wenn Sie nun da stehen auf einem Rathausvorplatz, im Park oder auf dem Parkplatz eines Supermarkts, dürfte nichts sein im Vergleich zu der Aufmerksamkeit, die einer Ihrer Konkurrenten erhält. »There are explosive kegs between my legs«, singt Morrissey, einstmals der Anführer der Smiths, auf seinem neuen Soloalbum »Ringleader of the Tormentors«.

Wird es so erfolgreich wie das Vorgängeralbum »You are the quarry«, werden Hunderttausende seinen Worten lauschen. Die Chancen stehen gut. Morrissey ist in aller Munde. Jüngere Bands wie Franz Ferdi­nand, Interpol oder The Killers erheben ihn zur Vaterfigur. Und die Schreiber der Musikpresse, die ihn in den neunziger Jahren links ­liegen gelassen haben, tippen heute mit schweißfeuchten Händen ihre Lobeshymnen.

Diese gehen meist mit einer derart ernsthaften Textexegese einher, wie man sie für gewöhnlich nur aus Literaturseminaren kennt. Da ist schon mal von »pathologischer Verletzlichkeit« die Rede, von der Umkehrung des »Erbsünde-Dogmas«, von Tod und Schuld und all den anderen Dingen, die seit eh und je den Stoff für Tragödien liefern.

Doch Moment! Singt hier nicht einer von den Pulverfässern zwischen seinen Beinen? Fordert da nicht ein Kinderchor, der mehrmals auf der Platte mitträllern darf, dazu auf, dem Alten zuhause an die Gurgel zu gehen, mit den Worten: »The father who must be killed«? Und macht sich Morrissey nicht selbst zum Pausenaugust, wenn er in seinem neuen Video vor der Kulisse einer italienischen Fernsehshow aus den Siebzigern mit bierernster Miene proklamiert: »You have killed me«?

Man kann den Mann nur gut finden, wenn man ihm mit dem nötigen Unernst begegnet. Denn wenn es ernst wird, wird es schlecht. Das gilt sowohl für die öffentliche Person als auch für den Star und Musiker.

Amüsant ist es, wenn er sich mit anderen Musikern anlegt, über Madonna oder David Bowie lästert oder auch mal fordert: »Bringt mir den Kopf von Elton John!« Die Arctic Monkeys qualifizierte er vor kurzem als Emporkömmlinge ab, die sich ihren raschen Erfolg nicht verdient hätten. Mitt­lerweile hat er seine Äußerungen über die Nachwuchsband zurückgenommen. Zu den großen Gesten, die er beherrscht, gehört nicht nur das hochnäsige Nörgeln, sondern auch die reuige Entschuldigung.

Weniger amüsant ist es, wenn er die Welt verändern möchte. Der Mann ist allen Ernstes davon überzeugt, dass sich einiges zum Guten wenden könnte, würden nur die Bratwurst und das Steak aus dem Speiseplan gestrichen werden. Bei der Form des missionarischen Vegetariertums, dem er anhängt, kann es schnell abgründig werden. Den ekligen historischen Vergleichen, die die Tierrechtsorganisation Peta gern ins Feld führt, stehen die Äußerungen des Sängers in nichts nach. So boykottiert er auf seiner bevorstehenden Tour Kanada, da in dem Land Robben zur Jagd frei gegeben sind. Der kanadische Premierminister verteidigt die Freigabe gegen internationale Proteste mit der Begründung, es entstünden Arbeitsplätze. Das lässt Morrissey jedoch nicht gelten: »Der Bau der deutschen Gaskammern hat auch für Arbeitsplätze gesorgt. Das ist kein moralischer oder einleuchtender Grund dafür, Leid zu erlauben.« Der Nazivergleich geht dem britischen Musiker recht schnell von den Lippen. Die US-amerikanische Einwanderungsbehörde hat der bekennende Gegner George W. Bushs als neue Form von »Hitlers SS« bezeichnet.

Glücklicherweise ist er Sänger, nicht Politaktivist. »Nobody knows what human life is, why we come, why we go«, sind seine ersten Worte auf »Ringleader of the Tormentors«. Bedeutungsheischend geht es also los. Solche Momente, die es auf allen Platten gab und die auch auf dieser eintreten, sind die schwächeren. Mit der Ontologie an sich ist es ja so eine Sache. Die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem großen Woher und Wohin möchte man in einem Popsong aber erst recht nicht hören. Und bei den in mehreren Songs wiederkehrenden Zwiegesprächen mit Gott will man Morrissey bitten, vielleicht doch lieber eine Kirche aufzusuchen, anstatt eine heilige Messe auf CD abzuhalten.

Man verzeiht ihm aber schnell. Schließlich gibt es auch noch die Pulverfässer zwischen seinen Beinen. Von denen erzählt er dem bereits erwähnten Gott in »Dear god, please help me«. Das ist anzüglich, unverfroren und charmant zugleich.

Und es gibt diesen Kinderchor. Seinen ersten Auftritt hat er im Song »The youngest was the most loved«. In dem Stück singt Morrissey vom Nesthäkchen der Familie, das trotz liebevoller Zuwendung später zum Mörder wird. Das wäre ein Alptraum für jedes Elternpaar. Im Song ist es aber gallige Ironie. Deshalb verkünden die Kinderstimmen: »There is no such thing in life as normal«. Jawohl, Shit happens. Das weiß doch ­jedes Kind.

Besonders besticht die Idee, den Chor ausgerechnet in den beiden Stücken einzusetzen, in deren Texten es ausschließlich um Mord und Totschlag geht. Während die Kinder in der Geschichte vom behüteten Zögling, der sich zum meuchelnden Satansbraten entwickelt, noch eine kommentierende Rolle spielen, dürfen sie in »The father who must be killed« den Songtitel zum Besten geben. Man stelle sich das Szenario im Aufnahmestudio vor: Ein Häufchen Zwerge mit Kopfhörern steht vor einem Mikrofon und trällert mit zarten Stimmchen die Aufforderung zum Vatermord.

Und dann gibt es noch den Song »You have killed me«. Er ist nicht grundlos als erste Single des Albums ausgekoppelt worden. Gefällig und zielstrebig schleicht er sich an, um in einem hymnischen Refrain aufzugehen. Das Stück wäre der perfekte Popsong, bestünde die zentrale Textstelle nicht aus der Proklamation des eigenen Ablebens.

Das sind einige der grandiosen Momente auf »Ringleader of the Tormentors«. Es gibt noch mehr davon. Entweder trifft eine traurige Melodie auf ein Augenzwinkern, oder das traurige Wort auf die treibende Hymne. Wenn sich etwas reibt und Form und Inhalt einfach nicht eins werden wollen, ist Morrissey brillant. Dann ist er der Dandy mit dem Hang zur großen Geste, den man nicht allzu ernst nehmen sollte.

Morrissey: Ringleader of the Tormentors (Sanctuary /Rough Trade)