Die Rückkehr des Rohrstocks

Die Zeiten der antiautoritären Erziehung sind vorbei. Nicht nur konservative Politiker fordern mehr Härte und Strenge. von richard gebhardt

Was wir brauchen, ist mitfühlende Härte an den Schulen«, sagte der Fraktionsvorsitzende der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, Nicolas Zimmer, während einer Debatte über die Vor­komm­nisse an der Neuköllner Rütli-Schule. »Mitfühlende Härte«? Mit seiner paradox anmutenden Forderung steht er nicht alleine. Zahlreiche konservative Politiker äußerten sich in der vergangenen Woche auf diese Art. So will etwa die nordrhein-westfälische CDU genauso wie Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) wieder Kopfnoten an Schulen einführen. »Kardinaltugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Fleiß sollten an den Schulen wieder stärker vermittelt werden. Die Wiedereinführung von Kopfnoten wäre sinnvoll. Erziehung muss auch Grenzen setzen«, sagte Beckstein dem Wiesbadener Kurier.

»Härte und Hilfe« fordert die liberale Zeit für die Lösung der Probleme an Deutschlands Schulen, und die ehemalige Bundesfamilienministerin Rita Süssmuth (CDU) klagt im Tagesspiegel: »Es fehlt an einer Grenzen setzenden Erziehung, die zugleich fördert und fordert, nämlich: Disziplin und Respekt und Rücksicht.«

»Härte und Hilfe«, »Fördern und Fordern«: Die Sprache der Agenda 2010 wird von der Presse und Politikern derzeit ungeniert auf die Pädagogik übertragen. Während der Arbeitsmarkt der Lebensplanung von Absolventen der Hauptschulen reale »Grenzen setzt«, soll durch bürgerliche Sekundärtugenden der soziale Kitt für eine Gesellschaft geschaffen werden, als deren Grundübel Multikultidezernenten und die Propagandisten der antiautoritären Erziehung gelten.

Dass Politiker der Union den Abschied von der »Kuschelpädagogik« fordern oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung in der gegenwärtigen Situation »die Erblast von Achtundsechzig« entdeckt, zählt zum Standardrepertoire konservativer Gesellschaftsdiagnosen. Stets galten »Pudding-Abitur« und anti­autoriäre Erziehung, Gesamtschule und Chancengleichheit, die als »Gleichmacherei« denunziert wurde, als Ausdruck des angeblichen Werteverfalls seit 1968.

Doch der gegenwärtige Rekurs auf die angeblich zersetzenden Folgen der Studentenrevolte wirkt mitunter skurril. Der Leitartikler der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erkennt noch in der jüngsten Rechtschreibreform das Motiv der Achtundsechziger, »alles zu schleifen, was ihnen als Herrschaftssystem vorkommen wollte«. Als der Schauspieler Oktay Özdemir (bekannt aus dem Film »Knallhart«) in der ZDF-Talkrunde »Berlin Mitte« dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) »auf gut Deutsch gesagt« mitteilte, dass dessen Einstellung »Scheiße« sei, rügte das Blatt die »Spätachtundsechziger-Umgangsformen« des jungen Mannes.

Dabei hatte er selbst mehrfach das hohe Lied auf »mehr Respekt« und »härtere Disziplin« angestimmt. Das bürgerliche Feuilleton rügt einen proletarischen Habitus und leugnet zugleich, welche Bedeutung Werte wie Geld, Leistung, Durchsetzungsvermögen und Konkurrenz auf den deutschen Schulhöfen inzwischen einnehmen.

Bezeichnend ist die gesellschaftliche Reaktion auf die Forderung nach mehr Autorität und die Defensive jener gesellschaftlichen Kräfte, die einst unter Verweis auf Theodor W. Adorno eine »Erziehung zur Mündigkeit« forderten. Zwar wehren sich Institutionen wie der Landesschulbeirat Brandenburg noch gegen die Einführung von Kopfnoten und ähnlichen, nie ganz abgelegten Relikten der Ära Konrad Adenauers. Aber auf Elternversammlungen wird immer häufiger der Ruf nach »mehr Autorität« laut, in Versammlungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordern einst linksliberale Kollegen schärfere pädagogische Maßnahmen.

Stärker als jeder nüchterne empirische Befund über die Gewalt an Schulen, die im Schnitt gar nicht zugenommen hat, wirkt die mediale Skandalisierung von Einzelfällen. Politiker wie der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) nehmen diese zum Anlass, sich mit Plänen zur Einrichtung von »Schnupperknästen« für jugendliche Straftäter zu profilieren. Friedbert Pflüger, der Spitzenkandidat der Berliner CDU für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Herbst, forderte »Metalldetektoren an den Schuleingängen« und die Abschiebung gewalttätiger Schüler. Wohin aber schiebt man Kinder ab, die einen deutschen Pass besitzen?

Vorbei sind die Zeiten, in denen antiautoritäre Klassiker wie das Buch »Die grüne Wolke« vom Gründer der freien Schule im britischen Summerhill, A.S. Neill, diskutiert wurden, Kinderläden großen Zulauf hatten und Eltern sich vor der Einschulung auf die Suche nach einer Schule mit Montessori-Ansatz machten. Statt dessen erlebt der Buchhandel einen Boom mit Benimmfibeln, mit denen Kindern »gutes Benehmen für Groß und Klein« eingetrichtert werden kann. Das frühere Alternativmilieu debattiert die »neue Bürgerlichkeit« und macht den »Neospießer-Test« in der taz. Die einst gepriesene »Neue Mitte« ahnt die Möglichkeit des eigenen Abstiegs und verlässt sich lieber auf altbewährte Regeln, statt den neuesten regressiven Debatten mit Argumenten entgegenzutreten.

Die Forderungen nach »Überwachen und Strafen«, nach Handyverbot und Hausaufgabenkontrolle verdecken ebenso wie der Ruf nach bürgerlichen Tugenden den Zustand des deutschen Bildungssystems. Fast jedes dritte Kind in Deutschland leidet nach Angaben von Hendrik Schneider von der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Kölner Universitätsklinik unter Verlust- und Lebensängsten, die von den Eltern nicht bemerkt würden. Nach den Angaben der Deutschen Allgemeinen Krankenkasse (DAK) sind 38 Prozent der Berufsschullehrer gefährdet, psychisch krank zu werden. Das sind Tatsachen, die in der gegenwärtigen Diskussion keine Rolle spielen.

Stattdessen wird darüber diskutiert, ob es in Deutschland bereits Slums gebe oder nicht. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte der Welt am Sonntag, er beobachte »Prozesse von Gettobildung« in Berlin. »Wir sollten uns ein Beispiel am ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani nehmen. Der setzte das Konzept der ›Broken Windows‹ gegen die öffentliche Verwahrlosung durch. Schon zerbrochene Fensterscheiben wurden umgehend repariert, um nicht weiteren Folgevandalismus zu provozieren.« In dieser einfachen Weltsicht sind zerbrochene Scheiben oder Graffiti das Problem, und nicht die fehlenden Voraussetzungen für eine bürgerliche Existenz, wie Einkommen und Wohlstand.

Die hitzige Diskussion über die Ver­hältnisse in Berlin-Neukölln und an der Rütli-Schule dient einer durchsichtigen Abrechnung mit den Ideen von der multikulturellen Gesellschaft und der liberalen Erziehung. Indem auf die Generation der Achtundsechziger geschimpft wird, wird verhindert, dass über ein Wirtschaftssystem diskutiert wird, das keinen Platz mehr hat für eine immer größer werdende Zahl von nicht nur jungen Menschen.