»Die Studenten sind die Prekären von morgen«

Daniel Bensaïd
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Die Proteste gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzes in Frankreich reißen nicht ab. Unter den Demons­tran­ten findet sich auch der eine oder andere, der bereits 1968 auf der Straße war. Zum Beispiel Daniel Bensaïd.

Nachdem er Mitte der sechziger Jahre wegen »linksradikaler Umtriebe« aus der KP Frankreichs ausgeschlossen worden war, war er einer der Gründer der JCR (Jeunesse communiste révolutionnaire), aus der die heutige LCR (Ligue Communiste révolutionnaire) hervorging. 1968 war er neben Daniel Cohn-Bendit und Serge July einer der Wortführer der »Bewegung des 22. März«, die maßgeblich am Mai-Aufstand beteiligt war. Heute ist er Dozent für Philosophie an der Universität Paris-VIII in der Banlieue Saint-Denis und einer der Vordenker der LCR. Mit ihm sprach Anne Joly.

Wie erklären Sie sich, dass die gegenwär­tigen Proteste so stark sind und von verschiedenen Schichten der Bevölkerung getragen werden?

Das neue Arbeitsgesetz ist Teil einer General­offensive gegen die sozialen Garantien und Rechte; in ihm bündeln sich alle Probleme der flexibilisierten und prekären Beschäftigung. In den vergangenen Jahren waren sämtliche sozialen Bewegungen gescheitert, zuletzt die Proteste gegen die Rentenreform im Jahr 2003, weswegen das »modèle français« weitgehend zerschlagen werden konnte. Nun ist das Bewusstsein vorhanden, dass wir zum ersten Mal seit langer Zeit dieser liberalen Politik etwas entgegensetzen können. Das ist ein Grund dafür, warum die Bewegung so stark ist. Auch die Umstände sind günstig. Das geplante Gesetz richtet sich vor allem gegen die Jugendlichen, und die Studenten besitzen die größte Mobilisierungskraft.

Die ausländische Presse spricht von einer mangelnden »Anpassungsfähigkeit« der Franzosen. Obwohl in anderen europäischen Ländern ähnliche Maßnahmen beschlossen wurden oder geplant sind, gibt es nur in Frankreich so großen Widerstand. Woran liegt das?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Es gibt hierzulande eine egalitäre Kultur, die stärker ist als anderswo. Die liberale Schicksalsgläu­big­keit, die Vorstellung, dass sich die politischen Entscheidungen den wirtschaftlichen Bedingungen zu fügen haben, ist in Frankreich keineswegs Konsens. Das hat mit der Stärke der Antiglobalisierungsbewegung und der Bedeutung von Publikationen wie Le Monde Diplomatique zu tun. Außerdem waren die sozialen Errungenschaften in Frankreich viel eher Ergebnisse harter Kämp­fe als ausgehandelter Kompromisse. Die Erinnerung an diese Kämpfe spielt eine große Rolle.

Man darf auch nicht vergessen, dass bei Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren die radikale Linke elf Prozent der Stimmen bekam, oder sogar 14 Prozent, wenn man die KP hinzurechnet. Das soziale und politische Kräfteverhältnis ist anders als im übrigen Europa. Die Sozialdemokratie muss dies berücksichtigen, wenn sie ihre Wähler behalten will. Deshalb ist der Diskurs der Sozialistischen Partei in Frankreich linker als der von José Zapatero, Tony Blair oder früher Gerhard Schröder.

Die Proteste sind also nur eine französische Angelegenheit?

Wenn es uns gelingt, die Regierung zum Nachgeben zu zwingen, können wir hoffentlich auch Menschen in anderen Ländern ermutigen.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen den gegenwärtigen Protesten und der Revolte in den Banlieues Ende des vorigen Jahres?

Die Demonstranten und die Jugendlichen aus den Banlieues sind durch eine gemein­same Sache verbunden: die Prekarität und die Ausgrenzung. In den Ban­lieues ist die Ausgrenzung räumlich und sozial und verstärkt durch das Gefühl einer rassis­tischen Diskriminierung. Diese Jugend­lichen sind frustriert, weil der soziale Aufstieg ausgeblieben ist, den man ihnen jah­relang versprochen hatte.

Die Regierung argumentiert, dass das neue Arbeitsgesetz insbesondere den Jugendlichen aus den Ban­lieues zugute komme, weil es ihre Chancen vergrößere, einen Job zu finden.

Anders als von der Regierung behauptet, ist dieses Gesetz keine Antwort auf die Ausschreitungen in den Banlieues, es ist eine Lüge, dass die Jugendlichen, die aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, dadurch an Jobs kommen. Der Regierung zufolge sind die Studen­ten und Schüler privilegiert, weil ihre Ausbildung ihnen eine Beschäftigung gewährleiste. Dieser Diskurs zielt nur darauf ab, die Banlieues und die Universitäten gegeneinander auszuspielen und dadurch die Bewegung zu schwächen.

Ist das nur die Behauptung der Regierung? Es gibt Jungendgangs aus den Banlieues, die Demonstranten angreifen. Manche sagen, dass sich die Randalierer mit ihren künftigen Arbeitgebern prügelten.

Das sind vielleicht 100 Leute, die die De­monstranten überfallen, um Mo­bil­telefone zu klauen. Aber das ist ein Randphänomen. Ich spüre vielmehr ein starkes egalitäres und solidarisches Gefühl. Denn die gesamte Jugend teilt das Bewusstsein von der prekären Lebenssituation. Ich unterrichte an der Universität Paris-VIII in Saint-Denis, einer bekannten Banlieue von Paris. Die Studenten dieser Universität sind in großer Zahl an den Demonstrationen beteiligt.

Wie sollen die Demonstranten auf diese Gewalt reagieren?

Man darf nicht vergessen, dass die Aus­schreitungen in den Banlieues von einem fortgesetzten Fehlverhalten der Polizei ausgelöst wurden, dass es der Tod von Jugendlichen war, der die Kra­walle herbeiführte. Die Revolte in den Banlieues war daher legitim. Wenn sich aber die Gewalt gegen die Bewegung wendet, muss man sich dagegen wehren. Das Recht auf Demonstration muss verteidigt werden. Man muss sich selbst organisieren, ohne die Polizei.

»Wir erkennen denselben Stoff wie im Mai 68«, haben Sie kürzlich in einem Aufsatz für die Tageszeitung Li­béra­tion geschrieben. Welche Gemei­nsamkeiten sehen Sie zum Mai 1968, und worin unterscheidet sich die heutige Bewegung von der damaligen?

1968 gab es in Frankreich weniger als 200 000 Arbeitslose, schon deshalb ist die Situation eine völlig andere. Es gab damals keine Angst vor der Zukunft. Der Kampf war viel mehr ideologisch und international bestimmt, das war tatsächlich ein glücklicher Aufstand.

Die Studenten von heute sind die Prekären von morgen. Insofern ist der Aufstand ein aus Beunruhigung entstehender und sogar ein verzweifelter. Zugleich unterscheidet sich die Bewegung von den wichtigen Protesten der vergangenen Jah­re. Die Begeisterung, der Humor, die Frechheit – all das erinnert an den Mai 1968. Es ist eine besondere Bewegung, aber keine glückliche.

Der Aufstand von 1968 war auch ein Auf­begehren gegen die Welt der Erwachsenen. Gibt es heute wieder einen Generationskonflikt, der sich in der Bewegung widerspiegelt?

Es gibt eher eine Art symbolische Nachahmung, wenn etwa die Sorbonne und Nanterre besetzt werden. Die Spannungen zwischen den Generationen sind heute geringer, da die Lehrer und die Eltern solidarisch sind und sich an der Bewegung beteiligen. Man sieht Eltern, die ihren Kindern bei den Blockaden helfen.

Die jetzige Bewegung will sich aber von den 68ern unterscheiden, was sich zum Beispiel an den demokratischen Organisationsformen zeigt. Jeder darf das Wort ergreifen, jede Meinung darf geäußert werden. Da gibt es einen krassen Unterschied zu 1968. Außerdem gibt es heute weniger Vordenker, es gibt keine bekannten Intellektuellen, die vorneweg marschieren. Der Pluralismus wird viel eher geduldet, und der Wille ist sehr stark, die eigene Bewegung unabhängig zu gestalten.