Beschnitten wird nicht

Das 25. Internationale Filmfestival Istanbul ist eben zu Ende gegangen. von constanze letsch

Blasse Menschen, die stumm anein­andervorbeihetzen, zum nächsten Kino, zur nächsten Vorstellung, den Filmkatalog mit starren Fingern um­klam­mernd, die glasigen Augen gerötet und geschwollen, zusammengekniffen im gleißenden Sonnenlicht, glückliche Cinephile. Es ist endlich Frühling in Istanbul.

Das Internationale Filmfestival Istanbul, das in diesem Jahr vom 1. bis 16. April stattfand, ist eine Institution. In diesem Jahr wurde es zum 25. Mal veranstaltet. Im Festivalkatalog zitierte der Präsident der Stiftung für Kultur und Kunst Istanbul, die unter anderem auch das Filmfestival organisiert, Sakir Eczacibasi, den Gründer der französischen Cinemathek, Henri Langlois: »Ein wahrer Filmliebhaber ist jemand, der einen chinesischen Film mit rus­sischen Untertiteln zu schätzen weiß, ohne auch nur ein Wort zu verstehen.« Es ist diese Atmosphäre von Cinephilie, die auch dem Festival in Istanbul einen ganz besonderen Charme verleiht.

Alles hatte ganz bescheiden begonnen: 1982, damals noch im Rahmen des »Internationalen Istanbul-Festivals«, waren sechs Filme gezeigt worden, die sich mit Kunst im Allgemeinen aus­­einandersetzten. Die Resonanz im Publikum war jedoch so groß, dass das Konzept der Film­tage fortgeführt wurde. 1983 wurden 36 Filme gezeigt, und schon 1985 wurden ein internatio­naler und ein nationaler Wettbewerb ins Leben gerufen.

Azize Tan, die stellvertretende Direktorin des Festivals, beschreibt es mit wenigen Worten so: »Es macht Spaß, es provoziert, es bringt Menschen zusammen, die über Film sprechen wollen. Großartig, oder?«

Ein Punkt, der ihr besonders am Herzen liegt und der auch auf der offiziellen Internetseite angesprochen wird, ist der folgende: »Seit 1988 ist das Festival frei von jeder Zensur.« Was auf den ersten Blick für ein Festival dieser Größe merkwürdig selbstverständlich klingt, ist eine Errungenschaft, auf die die Ver­anstalter beson­ders stolz sind. In den Jahren vor 1988 hatte das eigens für das Festival eingerichtete Zensurgremium über die Veranstal­tung bestimmt, hier und da wurden Szenen ge­kürzt oder gänzlich weggeschnitten. Der militärische Putsch von 1980 lag erst kurze Zeit zurück, die Cinemathek war geschlossen worden, und die Mili­tär­regierung wachte aufmerksam über die Kultur und die Medien der Türkei. 1988, als fünf der am Festival beteilig­ten Filme zum Teil aus politischen, zum Teil aus moralischen oder religiösen Gründen aus dem Programm genommen worden waren oder erheblich beschnitten werden sollten, hatte man genug. Der damalige Direktor der Filmtage, Vecdi Sayar, verurteilte die Entscheidung der Filmwächter als »unzeitgemäß«. Nicht ein­mal in faschistischen Staaten würde eine Regierung für ein Festival eingereichte Filme einfach verbieten, zitierte ihn die Zeitung Cumhuriyet. Protestmärsche wurden organisiert, türkische und ausländische Filmemacher, u.a. auch der Vorsitzende der Jury des Internationalen Wettbewerbs von 1988, der Regisseur Elia Kazan, forderten die türkische Regierung auf, endlich auf die Zensur von Filmen zu verzichten.

Der damalige Kultur- und Tourismusminister der Türkei, Tinaz ­Titiz, gab dem Drängen schließlich nach – zumin­dest das Verbot von Filmen aus dem Ausland schien ihm ein unvorteilhaftes Bild der Türkei zu zeichnen. Es war das erste Jahr in der Geschichte des Festivals, in dem ausländische Bei­träge weder gekürzt werden sollten noch verboten wurden. Allerdings galt diese Regelung lediglich für die Zeit und den Rahmen des Festivals selbst: Der Film »La Luna« von Ber­nardo Ber­tolucci, der im internationalen Programm gezeigt wurde, durfte später in der Türkei nicht mehr aufgeführt werden.

Türkische Filme waren jedoch auch nach 1989 und auch im Rahmen des Filmfestivals von Zensur und Verbot betroffen. Wie zum Beispiel »Blackout Nights«, ein Film von Yusuf Kurcenli, der die Geschichte des Dichters Mus­ta­fa Ural erzählt, der am Ende des Zwei­ten Weltkriegs wegen »Verbreitung kommunistischer Propaganda« in Istanbul verhaftet und gefoltert wur­de. Der Film wurde in erster Instanz verboten und aus dem Programm ge­nommen. Nach Protesten wur­de er in zweiter Instanz jedoch freigegeben und gewann prompt den Preis für den besten türkischen Film 1990. Also doch noch ein Happy end?

»Staatliche Zensur ist, was den Kinobetrieb angeht, kein wirkliches Thema mehr«, sagt Azize Tan, die zufrieden lächelt. »Seit 1988 hat sich viel geändert. Das Filmfestival hat einen entscheidenden Beitrag zur Rede- und Meinungsfreiheit in der Türkei geleis­tet.« Tatsächlich gibt es keine offiziellen, staatlichen Gremien mehr, die sich nur mit dem Kontrollieren von Drehbüchern und Filmen beschäftigen. Doch staatliche Zensur ist oft gar nicht mehr nötig. Filme, die Themen behandeln, die in der Türkei als sensibel gelten, finden oft schwer oder gar keine finanzielle Unterstützung. Und sollte ein Film mit kontroverser Thematik doch fertiggestellt werden, findet sich oft weder ein Verleiher noch ein Kino, die bereit wären, den Film zu zeigen. Gesetze wie der Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der eine »Beleidigung des Türkentums und öffentlicher Ämter und Institu­tio­nen« – dazu gehört auch das türkische Militär – untersagt, führen oft zu Selbstschutz durch Selbst­zensur.

Der politische Anspruch des Festivals ist jedoch geblieben. Vor allem Filme, die in der Türkei sonst schwer einen Verleiher oder auf eine Leinwand finden würden, aus welchen Gründen auch immer, wie Tan betont, finden sich in der Auswahl. Zum zweiten Mal gab es dieses Jahr ein Programm zum Thema »Menschenrechte im Film« und zum ersten Mal und anlässlich des 25. Filmfestivals auch ein Programm mit dem Titel »Frei­heit für Frauen – Kadin­lara Hürriyet«. Sieben Filme, die sich mit Frauen auseinander­set­zen, Filme, die witzige, schlagfertige, verzweifelte und mutige Frauen zeigen, aber keine Opfer: u.a. auch der auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnete Film »Off­side« des Regisseurs Jafar Pa­nahi, »Wasser«, der dritte Teil der »Ele­mente-Trilogie« von Deepa Mehta, »Del­wende« von S. Pierre Yaméogo oder »Petite Jerusalem«, der erste Spielfilm von Karin Albou.

»Wir wollen den Frauen hier zeigen, dass sie nicht allein sind. Die Filme im Programm ›Freiheit für Frauen‹ beschreiben die Probleme von Frauen in anderen Kulturen, anderen Regionen dieser Welt. Probleme, die entstehen, weil Frauen durch Religion, Tradition und gesellschaftliche Normen in starre Gefüge gedrängt werden. Wir wollen eine Sensibilisierung erreichen, eine Art Solidarität unter Frauen schaffen.« Azize Tan hofft, dass die Filme die Diskussionen um Frauenrechte und Gleich­berechtigung beleben werden.

Dass es keinen türkischen Film in die­­­sem Programm gab, sei Zufall, meint sie. Doch die türkische Regis­seu­rin Melek Ulagay Taylan bat die Festivalleitung ausdrücklich darum, ihren Film »Dialogues in the dark«, der sich mit Ehrenmorden im Südosten der Türkei auseinandersetzt, nicht in der Reihe »Freiheit für Frauen«, sondern im Programm »Menschenrechte im Kino« zu zeigen. Feminismus, so lautete ihre Begründung, sei in der Türkei für viele ein Begriff, der zu starr klinge, zu kategorisch, zu ausschließlich.

Azize Tan glaubt selbst nicht an Kategorien, nicht an »den Frauenfilm«, an klare Unterteilungen dieser Art. Das Internationale Filmfestival Istanbul soll Grenzen überschreiten und keine neuen Ausschließungen schaffen, einzelne Programme sollten den Zuschauern lediglich Stütze sein. Ob das Festival ein wenig zur Weltverbesserung beitrage? Ja, sie glaube an die Macht des Mediums Film, sagt sie und lacht.