»Es lässt sich nicht vermeiden, dass man älter wird«

Greta, Lars und Thorsten

Winston Churchill wird der Ausspruch zugeschrieben: »Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer es mit 40 immer noch ist, hat keinen Verstand.« Viele halten sich an diese Weisheit und verabschieden sich um die 30 von der radikalen Linken. Wo­ran liegt das? Und was machen die, die dabei bleiben, zumal der althergebrachte linksradikale Lebensstil, zu dem nicht zuletzt die Vermeidung der Lohnarbeit gehörte, kaum noch funktioniert? Wer zahlt eine Rente für Linksradikalismus?

Um solche Fragen ging es auch in dem Workshop »Über 30 und immer noch linksradikal?« auf dem Kongress »Autoorganisation 2006«, der am Wochenende in Berlin stattfand. Mit Teilnehmern des »linksradikalen Seniorentreffens« sprach Deniz Yücel.

Fühlen Sie sich alt?

Greta: Mittelalt. Aber man wird älter, das lässt sich nicht vermeiden.

Thorsten: Für meine vier Kinder bin ich alt, aber ich sehe mich selbst nicht so.

Lars: Ich bin jünger als meine kommunistische Großmutter.

Dennoch sind Sie älter als der Durchschnitt der Szene. Warum ist die radikale Linke hierzulande eher eine Jugendbewegung?

Thorsten: Politische Arbeit kostet viel Kraft und Zeit, die man irgendwann nicht mehr im selben Maße zur Verfügung hat, spätestens, wenn man Verantwortung für andere übernehmen muss. Auch ohne Kinder ist für viele das Ende des Studiums der Punkt, an dem sie sich umzuorientieren beginnen.

Spielt der soziale Hintergrund der Leute dabei eine Rolle?

Lars: Wer, wie der typische Studierende aus der Mittelschicht, nur aus dem Kopf heraus links ist, kann sich eine neue Theorie zurechtlegen, sobald sich das Umfeld ändert. Etwas anderes ist es, wenn jemand zuerst im Bauch spürt, dass etwas Scheiße ist, und sich dies anschließend theoretisch erklärt. Daher ist vielleicht eine neue radikale Linke, die aus den Prekarisierten entsteht, dauerhafter.

Die Jugendlichkeit ist auch ein spezifisch deutsches Phänomen. Mit dem Faschismus wurden linksradikale Traditionen abgebrochen. Von den Überlebenden gingen viele in die DDR und wurden dort verbraucht, so dass im Westen nur sehr wenige zurückblieben. Eine neue Kontinuität begann erst 1968. Seither gilt, dass Linke jung sind und mit dem Alter auch »vernünftig« werden. Mir ist das übrigens relativ spät aufgefallen. Ich stamme aus einer kommunistischen Familie aus dem Rheinland, mein Urgroßvater gehörte zu den Gründern der örtlichen KPD. Bei uns wäre niemand darauf gekommen, dass politische Überzeugungen eine Frage des Alters seien.

1968 stand unter dem Motto »Traue keinem über 30«.

Lars: Im damaligen Deutschland handelte es sich bei Leuten über 30 potenziell um ehemalige Nazis, deshalb sollte man ihnen nicht »trauen«. Die Parole meinte nicht, dass man jenseits der 30 kein Linker mehr sein könne.

Sie alle wohnen in »Wohnprojekten«. Ist das eine Bedingung, um im fortgeschrittenen Alter linksradikal zu bleiben?

Greta: Zumindest hilft es. Du kannst dir die Arbeit aufteilen; selbst wenn du nicht mehr so aktiv bist, bekommst du Diskussionen mit usw. Unter diesen Bedingungen sind Lohnarbeit, Kinder und politische Arbeit leichter zu vereinbaren.

Auch mit vier Kindern?

Thorsten: Wer Kinder hat und weiter politische Arbeit machen will, braucht Strukturen, die einem dabei helfen.

Das klingt, als sei die radikale Linke eine Art Orden: Wer an einem Punkt die Einheit aus Denken, Wohnen, Finanzierung, und kulturellen Vorlieben verlässt, verabschiedet sich von der Linken.

Greta: Der gesellschaftliche und ökonomische Druck auf den linksradikalen Lebensstil ist groß und wird mit dem Alter größer. Man muss nicht in einer Wohn- oder Hausgemeinschaft leben, es können auch Kollektive sein, in denen man arbeitet. Wer aber überhaupt keinen sozialen Rahmen hat, in dem sich das Politische und der Alltag verbinden lassen, hat es sehr schwer. Allumfassend muss diese Verbindung jedoch nicht sein.

Gehen Sie einer geregelten Arbeit nach?

Greta: Jedenfalls keiner Lohnarbeit.

Thorsten: Wenn es Arbeit gibt, ja.

Lars: Ja, aber nicht in dem Beruf, den ich studiert habe, nämlich Informatik. Ich arbeite in der Pflege und kann glücklicherweise selbst bestimmen, wann und wie viel ich arbeite. Fast alle älteren Linksra­dikalen haben eine Nische gefunden. Auch wenn alle die Frage beschäftigt, wie er oder sie sich ernähren kann, wird dies in der Linken als persönliches Problem betrachtet und nicht als soziales.

Hat sich daran in den letzten Jahren nichts verändert?

Lars: Diese Fragen werden wichtiger, weil der Staat einen nicht mehr so locker leben lässt. So überlegen wieder Leute, Kollektive zu bilden. Wobei auch das nicht einfach ist: Wenn es in Marburg schon einen linken Buchladen gibt, braucht es keinen zweiten. Auch in der Frage des Wohnens beobachte ich, dass Menschen über 40 oder 50, die vor Jahren aus Wohnprojekten ausgezogen sind, wieder in Gruppen wohnen wollen, altersübergreifend oder auch als »linke Seniorenkommune«. Es geht auch um die finanzielle und medizinische Absicherung. Alte Ideen wie Kommunen und Kollektive scheinen, vielleicht in etwas gewandelter Form, zurückzukehren.

Die radikale Linke ist auch ein subkulturelles Milieu. Trägt dies zur Fluktuation bei?

Thorsten: Eine kulturelle Abgrenzung vom Mainstream halte ich für notwendig, weil diese Subkultur andere Inhalte transportiert. Das ist keine Frage des Alters, abgesehen davon, dass Subkultur sehr anstrengend sein kann und nicht mehr alle bei dem Beat mithalten können.

Ihr ältester Sohn ist 16. Gehen Sie mit ihm auf Partys?

Thorsten: Manchmal. Dann fühlt er sich etwas kontrolliert. Zugleich ist er stolz darauf, dass er sagen kann: »Mein Alter geht auf Punkkonzerte.« Wobei sich meine musikalischen Ansprüche auch geändert haben.

Mögen Sie heute noch dieselbe Musik wie vor 20 Jahren?

Greta: Teilweise ja. Aber zu Punkkonzerten bin ich auch früher nur selten gegangen. Zu Partys in meinem Wohnprojekt »New Yorck 59« oder zu anderen linken Partys hingegen gehe ich gerne. Selbst wenn man sich als Ältere manchmal über das Verhalten der Jungen amüsiert, grenzt man sich nicht ab, es geht respektvoll und freundschaftlich zu. Und zumindest die Berliner Szene hat gelernt, dass verschiedene kulturelle Formen nebeneinander Platz haben, dass nicht alle die gleiche Musik mögen und die gleichen Klamotten anziehen müssen.

Lars: In Marburg gibt es eine linksradikale Afterwork-Party. Sie beginnt und endet früher, auch die Musik ist anders. Die Party passt sich dem Lebensrhythmus an, der sich bei Leuten ändert, die nicht mehr studieren, sondern einer Lohnarbeit nachgehen. Und mit zunehmendem Alter kannst du auch nicht jede Nacht durchmachen. Interessanterweise treffe ich auf diesen Partys Leute, die ich schon seit Jahren nirgends gesehen habe.

Thorsten: Es mangelt an Orten, wo verschiedene Generationen zusammenkommen. Wir haben den Fußballverein »Roter Stern Leipzig«, wo sich altersübergreifend Leute finden, die zwei Sachen miteinander teilen: ein linkes Bewusstsein und die Liebe zum Fußball. Es gibt Männer- und Frauenteams, Jugendmannschaften und ein Altherrenteam. Das Vereinsleben geht über den Fußball hinaus und ist politisch. Es kommen auch Leute, die keinen Gefallen mehr an Szenepartys in Connewitz finden.

Denken Sie an die Rente?

Lars: Nicht im üblichen Sinn. Aber ich mache mir Gedanken darüber, wie ich in 20 oder 30 Jahren mein finanzielles Auskommen sichern kann.

Greta: In Berlin gibt es einen alternativen Rentenfonds, gegründet von Leuten, die noch ein bisschen älter sind. Aber für mich ist das noch weit weg.

Kontakt: links30plus@gmx.de