Von Nigeria nach Neukölln

Bewaffnete Banden sind in einigen Regionen Afrikas heute die stärkste soziale Bewegung. Sie haben uns möglicherweise etwas über die Zukunft Europas zu erzählen. von ruben eberlein

Eine alltägliche Szene in Nigeria, zum Beispiel auf dem Weg von Port Harcourt nach Lagos: Der Reisebus wird gestoppt, einige junge Männer vermitteln dem Fahrer nachdrücklich, dass er eine »Entwicklungssteuer« zu bezahlen habe, bevor die Reise weitergehen könne. Unter den Fahrgästen murrt und grummelt es, einige protestieren: Vor wenigen Kilometern musste schon einmal bei Uniformierten die Passage freigekauft werden. Doch das Angebot der kräftigen Typen – unbeschadete Weiterreise gegen Bares – ist eines, das man nicht ablehnen kann.

In vielen Ortschaften des Nigerdeltas haben, wie in anderen Kriegsregionen, Banden die Macht übernommen. Sie revoltieren gegen gesellschaftliche Zustände, in denen nur eine mit Stacheldraht und Scherben gespickte Mauer den unglaublichen Reichtum einiger Weniger von den Massen der ums tägliche Überleben Kämpfenden trennt. Ihren ideologischen Ausdruck findet diese extreme soziale Polarisierung in der Gerontokratie, in der Alter und Wohlstand eng miteinander verbunden sind. Die Gangs, deren junge Anführer nicht selten verstoßene Söhne der kleinen Ober- und Mittelschichten sind, bilden heute in einigen Gegenden Afrikas zweifellos die stärkste soziale Bewegung. Die »Spitzbuben« regieren, der Stärkere spricht ad hoc »Recht«, jede indirekte Vermittlung von Herrschaft wird ersetzt durch Maschinenpistolen.

Vergleiche zwischen den Jugendgangs in Nigeria, der Côte d’Ivoire oder anderen Gegenden Westafrikas und sozialen Brennpunkten in den USA und Europa drängen sich regelrecht auf. Zwar sind die Gebiete, in denen der Staat sein Gewaltmonopol auf Dauer verloren hat, in den westlichen Industriestaaten noch relativ begrenzt, doch gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit der Lage in Afrika.

Eine liegt in der Funktion der körperlichen Gewalt: Sie ist hier wie da meist nur insofern Mittel der politischen Auseinandersetzung, als sie Angst und Schrecken unter den Beherrschten erzeugen soll. »Das Ursprungsterrain der Gewalt«, so hieß es in einem Beitrag dieser Zei­tung hinsichtlich der Angriffe auf die Demonstrationen in Paris, »ist nicht mehr die Fabrik, der Arbeitsplatz, sondern der Lebensbereich, wo die Gewalt vor allem gegen die direkte Nach­barschaft ausgeübt wird«.

Das findet in Afrika seinen Ausdruck zum Beispiel in der mafiösen Verwaltung der Universitäten durch bewaffnete Gruppen (den so genannten Cults) oder in den Schutzgelderpressungen und gipfelt schließlich in der Terrorisierung der Zivilbevölkerung durch Rebellen, die nicht einmal mehr vorgeben, Befreiung zu bringen.

Crack-Kriege in Washington DC, die Erhebungen in den Achtzigern in Brixton oder die jüngsten Riots in den Banlieues der französischen Städte mögen ihre lokalen Besonderheiten und Unterschiede gehabt haben. Doch sie eint die für ihre Protagonisten kennzeichnende Erfahrung der sozialen und politischen Unterlegenheit sowie das plötzliche, rauschhafte Erleben der eigenen Stärke. Der kleine Gangsta-Boss in Queens hat letztlich mit dem liberianischen Rebellen im Tupac-T-Shirt mehr gemeinsam als mit einem plötzlich zu Geld und Ruhm gekommenen Aufsteiger wie dem Rapper 50 Cent.

Und Deutschland? Gebiete, in denen jenes institutionelle Geflecht, das wir gewöhnlich »Staat« nennen, nur noch ein­geschränkt vorhanden ist und auf unterschiedliche Weise offen herausgefordert oder vergesellschaftet wird, gibt es auch hier. Und beileibe nicht nur an der Rütli- oder an anderen Hauptschulen, in denen der menschliche Abfall der hoch technologisierten sozialen Apartheid zwischengelagert wird. Die ethnische Aufladung und Rassifizierung der dortigen Zustände durch die meisten Medien und die politischen Unternehmer reflektiert vor allem die kulturelle Beschränktheit die­ses Landes. In den USA hat sich Spanisch mittlerweile als zweite Verkehrssprache etabliert und wird auch in Behörden verwendet; um die Stimmen der US-amerikanischen Latinos werben beide großen Parteien intensiv. Türkisch als zweite Amts- und Verkehrssprache in Deutschland hingegen liegt für die meisten »Indigenen« außerhalb jeder Vorstellungskraft. Schwarze Deutsche? Für die große Mehrheit ein unauflösbarer Widerspruch.

Weite Landstriche der ostdeutschen Bundesländer und die Menschen, die dort leben, sind wirtschaftlich schlicht überflüssig. Im Nordosten hat, wie Astrid Geisler vor kurzem in der taz feststellte, eine proto-faschistische Dominanz Wurzeln geschlagen, die keiner Parteien mehr bedarf. Sie reproduziert sich beständig durch die ökonomischen Gegebenheiten. Diejenigen, die die Hoffnung haben, sich als frei schwebende Ich-AGs selbst ausbeuten zu dürfen, ziehen in die Metropolen. Zurück bleiben jene, die die große Welt verschmäht. Ihre mentale Balance versuchen sie nicht selten mit einer abstoßenden Mischung aus Heimatduselei, Volkskunst und Suff zu halten.

Der permanente Riot, wie er in vielen Gegenden Afrikas bereits an der Tagesordnung ist, so lässt sich folgern, hat unter Umständen einiges über die Zukunft Europas zu erzählen. Diese Zukunft hat möglicherweise bereits begonnen.