Gedränge im Strafraum

Erst arm, dann kriminell: Ob jemand in Deutschland straffällig wird, hängt vor allem von seiner sozialen Stellung ab. von ron steinke

Nachdem kürzlich ein 16jähriger Amokläufer in Berlin 41 Menschen mit einem Messer angegriffen hatte, forderte Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD), man müsse jungen Menschen »mehr Stoppschilder setzen«. Der Fraktionsvorsitzende der Berliner FDP, Martin Lindner, verlangte eine drastische Verschär­fung des Jugendstrafrechts. Die Altersgrenze zur Strafmündigkeit sollte von 14 auf zwölf Jahre gesenkt werden. Zur Abschreckung müssten zudem neue Formen der Kurzhaft für Jugendliche eingeführt werden. Ein so genannter Warnschussarrest könnte Zwölfjährige dann »vor dem Abgleiten in eine Täterkarriere bewahren«.

Der Ruf nach Gesetzesverschärfungen gehört als Reaktion auf gesellschaftliche Ängste zum politischen Alltag, egal ob es um Kampfhunde oder um Religionssatiren à la Popetown geht. Seit dem Beginn der neunziger Jahre war jede Änderung im deutschen Strafrecht eine Verschärfung. In den siebziger Jahren wurde noch abgemildert.

Der Forderung nach härteren Strafen liegt die Prämisse zugrunde, dass unerwünschtes Verhalten wie Kriminalität sich durch Gesetze steuern lasse. Untersuchungen zum Verhältnis von Strafe und Kriminalität deuten jedoch seit Jahren auf das Gegenteil hin. »Keine der deutsch­sprachigen Studien hat Anhaltspunkte für beachtlich abschreckende Wirkungen von Strafen gegeben, weder bezogen auf Schwere noch auf Wahrscheinlichkeit«, stellt der Freiburger Kriminologe Günther Kaiser fest. »Mit diesen Strafverschärfungen ist niemandem geholfen«, sagt Miriam Gruß, Strafrichterin am Land­gericht Marburg und Vorstandsmitglied der Neuen Richtervereinigung.

Für die Innenpolitik hat es einen entscheidenden Vorzug, die Strafen zu erhöhen. Im Gegensatz zu wirksamen Präventionsmaßnahmen sind Gesetzesverschärfungen recht billig zu haben. Unbequeme Fragen nach ihren tatsächlichen Auswirkungen werden fast nie gestellt.

Als Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) kürzlich die Kriminalstatistik des Bundes vorstellte, konnte man erfahren, was, abseits von spektakulären Einzelfällen, die alltägliche Arbeit der Strafverfolger ausmacht. Mehr als zwei Drittel der Delikte, denen die Polizei nachging, waren Straftaten gegen die Eigentumsordnung. In den deutschen Gefängnissen sitzen 30 142 Gefangene wegen Eigentums- und Ver­mögensdelikten, weit mehr als etwa wegen Sexualstraftaten (4 907 Gefangene) oder Kapitaldelikten (4 559 Gefangene). Ein Blick auf die sozialen Verhältnisse, aus denen die Gefangenen stammen, lässt Zusammenhänge erahnen. 73 Prozent aller Gefangenen waren vor ihrer Inhaftierung arbeitslos, 62 Prozent lebten von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe, rund 46 Prozent hatten keinen Schul­abschluss. Es gibt keinen anderen Faktor, der so viele Angeklagte und Inhaftierte verbindet, wie die Armut.

Wer den Wertemaßstab des deut­schen Strafgesetzbuches kennt, der wird von der Zusammensetzung der Gefängnisbevölkerung kaum über­rascht sein. Der Schutz des Eigentums nimmt im Strafrecht seit langem eine besonders hervorgehobene Stellung ein. So beträgt etwa die gesetzliche Min­deststrafe für eine »normale« Körperverletzung fünf Tagessätze. Kommt zu der Körperverletzung jedoch die Absicht hinzu, sich fremdes Eigentum anzueignen, und sei es nur im Wert von fünf Euro, so wird aus der Tat juristisch ein Raub, und die Mindeststrafe erhöht sich schlagartig auf ein Jahr Haft, ungeachtet der Schwere der Gewalt. Diese Strafe ist dieselbe, die auch auf Entführung oder Vergewal­tigung aussteht.

»Der Wertungswiderspruch ist frap­pierend«, bemerkt Richterin Miriam Gruß. »Diese Strafgesetze fallen ja nicht vom Himmel, sondern stellen politische Entscheidungen dar.« Noch in den frühen achtziger Jahren wurde unter dem Motto »Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik« für Prävention und Resozialisierung ge­worben. Mit der Einfüh­rung von neuen, repressiven Elementen in der Sozialpolitik geht die Entwicklung heute in die umgekehrte Richtung.

»Die Kriminalpolitik setzt immer nur hinten an, mit härteren Strafen«, sagt Wil­fried Hamm, Vorsitzender Richter am Land­gericht Potsdam und Sprecher der Neuen Richtervereinigung. »Und anstatt dass am Anfang, wo Armut und Perspektivlosigkeit stehen, etwas verbessert würde, kürzt man dort weiter die Grundsicherung.«

Im deutschen Recht wiegen auch kleine Angriffe auf die Eigentumsordnung bereits relativ schwer. Schon das Massendelikt Dieb­­stahl wird ebenso hart bestraft wie die Körperverletzung. Stärker als die Gewalt selbst wirkt sich auf das Strafmaß bei Gewalttaten aus, ob Eigentum betroffen war. »Man könnte annehmen, dass die Gerichte damit die Gier als besonders verwerfliches Tatmotiv bestrafen«, schlussfolgert Wilfried Hamm.

Andere Motive führen vor Gericht jedoch keineswegs zu einer vergleichbar Straf­ver­schärfung. Rassistische Motive beispiels­wei­se wirken sich in Deutschland, anders als zum Beispiel in den USA, auf die juristische Beurteilung einer Tat überhaupt nicht aus. Eine im Jahr 2000 vom Land Brandenburg eingebrachte Gesetzesinitiative zur Ahndung so genannter Hassverbrechen wurde damals von allen Seiten abgelehnt. Stattdessen wurde im Jahr 2001 das Halten gefähr­licher Hunde als neuer Straftatbestand eingeführt.

Auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der neuen Kriminalstatistik wollten die an­wesenden Journalisten vor allem über Aus­länder- und Jugendkriminalität reden. Schäub­le nahm das Thema gerne auf und nutzte die Gelegenheit, sich zur Ab­wechslung einmal großzügig zu zeigen. Die Gesetzestreue der Ausländer habe sich im vergangenen Jahr gering­fügig verbessert, bleibe freilich auf gewohnt niedrigem Niveau. Bei einem Bevölkerungsanteil von knapp neun Prozent seien die Migrantinnen und Migranten derzeit immer noch für 23 Prozent der Straftaten verantwortlich.

Der Vergleich dieser beiden Prozentzahlen ist, wie Schäuble wissen dürfte, alles andere als seriös. Das Bundeskriminalamt erklärt auf seiner Homepage: »Die sich in Deutschland aufhaltenden Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft sind im Vergleich zur deutschen Bevölkerung im Durchschnitt jünger und häufiger männlichen Geschlechts. Sie leben häufiger in Großstädten, gehören zu einem größeren Anteil unteren Einkommens- und Bildungsschichten an und sind häufiger arbeitslos. Dies alles führt zu einem höheren Risiko, als Tatverdächtige polizeiauffällig zu werden.« Und nichts anderes als die »Polizei­­auffälligkeit« wird in der Kriminalstatis­tik gemessen.

Ausführungen über die vermeintlich gefährlichen Migranten lassen dies freilich gern vergessen. Wenn es um die Ethnisierung des sozialen Phänomens Kriminalität geht, spielen Tatsachen traditionell eine untergeordnete Rolle. Im Rahmen einer Plenardebatte über Zwangsverheiratungen im nordrhein-westfälischen Landtag sprach der Redner der CDU kürzlich unwidersprochen von 30 000 Fällen von Zwangsheirat in Deutschland. Dies entspricht beinahe der Anzahl sämtlicher in Deutschland geschlossenen Ehen zwischen Türken.