»Man kannte nichts als den Zarape und Pelé«

Sergio Ramírez

Der Schriftsteller Sergio Ramírez war ein prominenter Anführer der Sandinisten während der Revolution in Nicaragua. Zwischen 1984 und 1990 gehörte er der Regierung der FSLN an und war zeitweilig stellvertretender Staatspräsident. Mitte der neunziger Jahre trennte er sich zusammen mit anderen innerparteilichen Oppositionellen von der FSLN.

Inzwischen hat sich Ramirez, der Romane, Essays, Erzählungen und Gedichte schreibt, aus der Politik zurückgezogen. Derzeit reist er durch Deutschl­and und stellt nicht ins Deutsche übersetzte Arbeiten vor. Auf Deutsch erschien zuletzt der Erzählband »Vergeben und vergessen«.

Auf dem internationalen Kongress des Schriftstellerverbandes Pen, der Mitte Mai in Berlin stattfand, sprach Katharina Severin mit ihm.

»Als Schriftsteller bedrängt mich die Düsternis der Wirklichkeit, und doch habe ich den besten Beruf der Welt«, heißt es in Ihrem Essay »Modellbaukasten«, den Sie auf dem Pen-Kongress in Berlin vorgetragen haben. Was meinen Sie damit?

Ein Autor, der in Lateinamerika geboren wurde, muss sich, sofern er nicht in eine poetische Kommunikation mit dem Jenseits flüchten will, auf die Realität beziehen. Er kommt nicht daran vorbei, die Konflikte anzusprechen, die um ihn herum existieren. Die Poesie von Pablo Neruda zum Beispiel war fast im Übermaß von einem politischen Anliegen getragen. Andere beschreiben das öffentliche Geschehen oder die politische Situation.

Manche Schriftsteller schreiben mit klaren politischen Idealen, andere überkommt die Realität wie ein Blitz, dem sie nicht ausweichen können. Wie auch immer, die Realität ist zu mächtig, als dass man sie ignorieren könnte. Das gilt nicht nur für politisch engagierte Autoren, sondern für alle.

Und Sie selbst?

Für mich zählen vor allem die öffentlichen Verhältnisse. Mir geht es darum, diese zu beschreiben, und weniger darum, sie politisch zu deuten. Wer dies macht, bedient sich nicht literarischer Mittel und ordnet sein Schaffen politischen Zwecken unter. Nicht, dass ich dies illegitim finde. Nur sollte die ästhetische Form gewahrt werden.

Welchen Eindruck haben Sie vom Pen-Kongress?

Wie in allen internationalen Foren wurden hier nicht die literarischen, sondern die politischen Probleme besprochen. Es ging nicht um das Verhältnis von Literatur und öffentlichem Leben, sondern allein um das öffentliche Leben. Internationale Kongresse führen immer zu Diskussionen über die konkreten Probleme der Welt. Wie könnte man nicht darüber reden?

Anders als früher engagieren Sie sich nicht mehr politisch und beschränken sich aufs Schreiben. Was bedeutet Ihnen die Schriftstellerei?

Ich schreibe aus verschiedenen Gründen. Vor allem anderen macht es mir Spaß. Es ist ein heroisches Glücksgefühl, dass ich schreiben kann und mich auch nichts anderem mehr widmen muss.

Außerdem liegt mir viel an der Kommunikation mit dem Anderen. Es gibt immer einen Leser. Nicht eine Masse von Lesern, sondern einen Einzelnen, der dazu bereit ist, mir zuzuhören. Und dann gibt es die allgemeine Frage, die sich alle Literaturschaffenden stellen: Wofür schreibe ich eigentlich?

Ich glaube, mir reichen die beiden ersten Punkte. Ich finde es besserwisserisch, der Literatur eine messianische oder philosophische Aufgabe zu verleihen und sich zum Propheten aufzuschwingen. Natürlich kann es einem Schriftsteller gelingen, mit seinem Werk eine Epoche oder ein Volk zu repräsentieren. Das kann die Folge seines Schaffens sein. Aber vorsätzlich ein solches Ziel verfolgen? Nein.

Gibt es überhaupt noch solche Schriftsteller, die in diesem Sinn politisch sind?

Günter Grass zum Beispiel hat ein klares, sozialdemokratisches Programm. Seine Kritik an der deutschen Wiedervereinigung war eine brisante politische Angelegenheit. Oder, wenngleich weniger konkret als Grass, Carlos Fuentes, der sich ebenfalls oft in kritischer Weise einmischt. Aber solche Autoren sind eher Ausnahmen. Im angelsächsischen Raum finden sich nur wenige Schriftsteller, die sich unmittelbar ans Politische wagen. Harold Pinter gehört dazu. In seiner beißenden Art ist er politisch, ohne konstruktive Kritik zu üben.

Haben Intellektuelle noch einen ähnlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung wie zu den Hochzeiten der Linken?

Ich denke nicht. Früher war es so, dass es mehr oder minder nur eine einzige Ansicht gab, die von verschiedenen Sprechern verkündet wurde. Heute haben sich die Ideale differenziert und gelockert. Früher war einfach zu benennen, wofür sich ein Schriftsteller einsetzt: für die Revolution, für die Dekolonisation, gegen den Vietnam-Krieg usw. Heute ist alles zersplittert, was sich um die Achse des Sozialismus drehte.

Die lateinamerikanischen Schriftsteller sympathisieren nicht gleichermaßen mit Hugo Chavéz wie in den sechziger Jahren mit dem revolutionären Kuba. Man kann sagen, dass heute die Intellektuellen keine Ware mehr wegen der Verpackung kaufen, sondern auf das Verfallsdatum achten.

Wie könnten sich Menschen dennoch für politische Themen interessieren?

Heute müsste man sagen: »Ich bin gegen den Internationalen Währungsfonds.« Oder: »Ich bin gegen Freihandelsabkommen.« Aber was versteht man darunter und was folgt daraus? Solche Aussagen brauchen Erklärungen. Sie gehen nicht einfach in das Bewusstsein der Menschen ein. Den Leuten muss verständlich gemacht werden, dass ein Freihandelsabkommen sie auf lange Sicht ruinieren wird oder dass der IWF der Teufel selbst ist.

Sie haben zeitweise in Deutschland gelebt. Welchen Eindruck haben Sie heute von Europa?

In den siebziger Jahren kannte man hierzulande aus Lateinamerika nichts weiter als den »Zarape«, den mexikanischen Hut. Und Pelé. Pelé war eine große Ikone. Mir scheint, dass man inzwischen mehr über Lateinamerika weiß.

Das erste Ereignis, das ins Bewusstsein vieler Europäer gelangte, war der Militärputsch in Chile Anfang der siebziger Jahre. Später folgte die Sandinistische Revolution in Nicaragua. Die Generation, die durch diese Dinge beeinflusst wurde, hat ein neues Verständnis für Lateinamerika geschaffen. Es gab eine intensive Verbindung zu Nicaragua und zu anderen Teilen des Kontinents. Heute ist Lateinamerika aus der Mode gekommen, vielleicht abgesehen von der kubanischen Musik, aber selbst das Interesse für sie ist dabei abzuklingen. Dafür interessiert man sich stärker für arabische oder afrikanische Schriftsteller. Das ist eine Frage von Wellen.

Wie sehen Sie die Lage im postrevolutionären Nicaragua?

In Nicaragua wurde eine Revolution versucht, die den Anspruch hatte, große Veränderungen zu vollbringen. Heute ist das Land ärmer als jemals zuvor. Es ist ein hilfsbedürftiges Land, es verfügt nicht über eigene Ressourcen, anders etwa als Venezuela, das Erdöl besitzt, oder Bolivien mit seinen Gasvorkommen. Diese Länder haben in der internationalen Politik Möglichkeiten, die Nicaragua nicht hat.

Wird sich Nicaragua bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im November dem »Linkstrend« in Lateinamerika anschließen?

Hugo Chavéz hätte das gern. Er mischt sich in den Wahlkampf ein und verkündet, dass die Leute den früheren sandinistischen Präsidenten Daniel Ortega wählen sollen. 10 000 Barrel Erdöl will er Nicaragua schenken, falls die FSLN siegt. Zugleich nimmt sich auch der US-amerikanische Botschafter heraus zu sagen, wer das Land am besten regieren würde. Er empfiehlt wiederum, man solle auf keinen Fall für Ortega stimmen.

Solche Interventionen sind dreist, weil sie die Souveränität Nicaraguas untergraben, die wir einmal mit Stolz verteidigt haben. Dennoch glaube ich, dass der Moment kommen wird, an dem sich Menschen nicht mehr kaufen lassen werden.