Blutspur zum ­Sandkastenspiel

Riesenessays, Liebesromane aus der Kloake, Science Fiction: Der Schriftsteller William T. Vollmann rächt die Literatur an der Politik. Von Dietmar Dath

Krankheiten sind stets Selbstheilungsversuche Leidender.

Auch Unrecht produzieren die Leute erst, seit sie Gerechtigkeit wollen und Politik machen, um Recht zu setzen. Wer überhaupt politisch denkt und handelt – selbst wenn dies in der konservativen, reaktionären Absicht geschieht, das bloß Vorgefundene, zufällig Bestehende zu verteidigen – gibt damit zu, dass er oder sie weiß: Man hat eine Wahl, das Naturwüchsige ist nicht alles, es gibt mindestens eine richtige und viele falsche Arten, zusammenzuleben.

Erst wenn die Erzeugungs- und Selbsterhaltungsverhältnisse unter Menschen ein gewisses Niveau erreicht haben, das man, einer noch gar nicht alten Tradition folgend, »Gesellschaft« nennen darf, wird über derlei gestritten. Vorher, im Bann der Sippen- und Stammesverbindungen, für die Marx das gruslige Wort von der »Blut-urenge« gebraucht, bauen die Leitaffen weit weniger geschichtswirksame Scheiße als zu späteren, politischen Zeiten. Aber nur deshalb, weil man mit Urhorden überhaupt noch nichts bauen kann, weder Schulen noch Gefängnisse. Die Rotte lebt von der Hand in den Mund. Sobald sich das ändert, gibt es Probleme. Sie sind also Merkzeichen des Fortschritts: Wer aufräumt, stellt Dreck her. Diese Dialektik ist noch nicht einmal besonders tiefsinnig; da wirkt ein durchaus geistloses, mechanisches Prinzip, vergleich­bar dem Rückstoß, der eine Rakete vorwärts schleudert – wer von der Erde wegwill, muss mit aller Kraft in ihre Richtung feuern.

Entsprechendes gilt für alle Scheußlichkeiten im Sozialen. Drogenwahnsinn ist der Versuch, dem Irrwitz der Normalität zu entkommen; Krieg findet statt, wo mit Gewalt ein bestimmter, möglichst stabiler Friedenszustand durchgesetzt werden soll; Prostitution und sexuelles Elend sind Folgen des Verlangens, jenseits trostloser Lizenzvergnügungen, wie sie der Ehevertrag verspricht, auf die Kosten der Lust zu kommen.

Was interessiert die Literatur an solchem gesellschaftlichen Unheil, sobald sie die alles andere als selbstverständliche Freiheit gewonnen hat, überhaupt von ihm handeln zu dürfen: eher das Leiden oder eher der Selbstheilungsversuch?

Beides.

Man kann nämlich einerseits über intime und mikropolitische Problemzonen wie den Drogensumpf, die Hinterhöfe sexuellen Elends, die ganze stinkende städtische Moderne und sämtliche Räume, in denen Entfremdungstatsachen vorherrschen, welche nicht direkt die Lohnarbeit betreffen, durchaus unterm Aspekt der Läsion, des Geschwürs, der Metastase schreiben, wie das Hubert Selby, Charles Bukowski oder William S. Burroughs getan haben.

Und auch fürs Erzählen der Wechselfälle abstrakter und makrohistorischer Katastrophen wie etwa der modernen Welt- oder Bürgerkriege gibt es ein paar kanonische Gussformen, deren Erfinder etwa Ernest Hemingway, Jean-Paul Sartre oder Wyndham Lewis heißen.

Wenn man tut, was jene taten, interessiert man sich zwangsläufig für die Scheiße als Scheiße, für ihr Sosein, ihre schiere Beschissenheit (damit ist nichts über Wertungen gesagt: Wyndham Lewis etwa fand seine Kriegsscheiße schlechthin schön und Burroughs verstand sich unter anderem wie wenige andere auf die Schilderung der angenehmen Seiten des Erhängtwerdens).

Man kann jedoch andererseits über all die kleinen und großen schrecklichen Dinge von der Überdosis bis zum Bombenteppich auch ganz anders schreiben als die Genannten, ja man muss das sogar, wenn einen Scheiße nicht als Scheiße, sondern als misslungener Kuchen unterm Aspekt der fortgeschrittenen Rezeptforschung beschäf­tigt. Nicht die bildhafte Lehre und eindrück­liche Kunde vom intensiven Erleben des Schlimmen an sich ist dann das vordring­liche Ziel, sondern die Wissenschaft vom (oft nur knapp) schiefgegangenen Guten, vom Desaster, das eigentlich etwas Richtiges meint.

So zeigen ihre Katastrophen natürlich immer auch die unter einerseits Angeführten. Aber als ob sie die Angst plagte, durch all zu viele Ausblicke aufs Nichtbeschissene die Wirkung ihrer Kunst zu schmälern, benennen sie diesen Nexus nur selten, im Nebensatz, wie hinter vorgehaltener Hand.

Mit obsessiver Ausführlichkeit jedoch gibt sich der 1959 geborene amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann jenem andererseits hin. Er spricht von sozialen Krankheiten, als wären sie Therapien.

Was ihn dazu verleitet hat, ist eine atem­beraubend altmodische Idee, der gleichwohl die Zukunft gehört, wenn die Menschenart überhaupt eine hat. Man muss auch dem größten Arschloch jederzeit unterstellen, dass es eigentlich das Gute will. Schlimmer noch. Man kann das, was unter Menschen geschieht, überhaupt nur verstehen, wenn man auch den eigenen Feinden und Gegnern Absichten zutraut, wie man sie selbst hegt.

Wer aber glaubt von sich, er oder sie liege völlig falsch?

Auf welcher Seite stehst du?

Burroughs, Bukowski und Selby wollten keine politischen Schriftsteller sein; sie waren aus guten, wenn auch womöglich histo­risch vergänglichen und vergangenen Grün­den frei von der Furcht, deshalb weniger ernst genommen zu werden. Hemingway, Sartre und Lewis wiederum mussten zwangs­läufig politische Schriftsteller sein, weil sie zu einer Zeit über geschichtswirksame Gewaltereignisse geschrieben haben, in der alle, die ihre Texte lesen sollten, genau wussten, dass etwa Kriege eben vor allem politische Ereignisse sind – statt, wie uns heute beigebracht wird, unerklärliche, aus tragisch-okkulten Gründen (Stammeszwietracht, Ursünde, Astrologisches) über einander massakrierenden Kollektive verhängte »humanitäre Katastrophen«, bizarre Unfälle gigantischen Ausmaßes, Rätsel.

Hemingway, Sartre und Lewis hatten Glück, nämlich einen einfachen Weg zur Hand, politische Schriftsteller zu werden. Sie verschafften sich ein paar mehr oder weniger stimmige politische Überzeugungen und spielten deren Implikationen dann in mehr oder weniger gelungenen Gedanken­experimenten am gegebenen historischen Datenmaterial durch.

(Was sind politische Überzeugungen? Die transzendentalen Lichter, die den Leuten aufgehen, wenn sie statt der vielen Bäume offizieller Haupt- und Staatsaktionen den Wald namens »Geschichte« in den Blick bekommen. Programmpunkte politischer Parteien können, so lange das Sein das Bewusstsein bestimmt, wohl nie mehr sein als der schwache, unstet flackernde Abglanz dieser metaphysischen Lichter in der pro­fanen Wirklichkeit; das gilt für die Grünen eben­so wie für Baath, die Labour Party oder die NSDAP).

William T. Vollmann ist ein politischer Schriftsteller ohne politische Überzeugungen.

Hätte er die richtigen (die es ja gibt – man lasse sich nichts anderes erzählen, Bangemachen gilt nicht), wäre er mir lieber. Dass er aber die falschen nicht hat, auf denen heute so gut wie alle herumreiten, die über das schreiben, worüber er schreibt, macht ihn kostbar.

Kollektive Gewalt, große Gemetzel, Völker­mord und verwandte Atrozitäten – im Zugzwang oft durchsichtigster geopolitischer oder sonstwie raumordnender Absichten werden solche Angelegenheiten immer häufiger zu Essenzen, zu Kainsmalen verfluchter Völkerseelen (Serben, Türken, Araber) erklärt.

Nichts könnte daher zeitiger sein als Voll­manns Hauptwerk »Rising up and Rising down«, ein Riesenessay über die gerechte Abwägung und Berechnung der Wirkungen und Ursachen politischer Gewalt. Wann, fragt Vollmann darin, rechtfertigt genau wer genau welche Gewalt gegen genau wen, und kann man bei so etwas tatsächlich im Recht oder im Unrecht sein?

Dass dieses Buch, Vollmanns längstes, außer fordernden Denkstücken über so unabschließbare Fragenkomplexe wie »Die Moral der Waffen«, »Mittel und Zwecke« oder »Wo enden, wo beginnen meine Rechte«, die Vollmann mit spinozascher Gewissenhaftigkeit durchkalkuliert, auch noch ein paar hoch auflösende »Studien über Folgen« (in Malaysia, Somalia, Jamaica…) enthält, macht aus der größten Schwäche dieses Autors – er hat keine Übersicht über die Dinge, die ihn beschäftigen, und strebt auch gar keine an – eine Stärke. Die Übersicht kann man sich beim Lesen selber bauen.

Mit heroischer Anspannung aller Textsehnen, mit großen Gedankengesten und kleinlichster Auflistungen von Beobachtungsatomen erzwingt Vollmann den permanenten Widerstand seines Textes gegen jede denkbare Instrumentalisierung. Fast wirkt das so, als würde er die immer wieder mit entschlossener Skepsis aufgeschobenen Überzeugungen doch schon besitzen und sie gegen die aus allen Medien bekannten der vorhandenen Mehrheitsmeinungen gleichsam rein atemtechnisch (statt argumentativ) verteidigen. »Ich« sagt er in seinen Reportagen nicht aus Eitelkeit, sondern um mit Nachdruck auszusprechen, dass er nicht das sagen will, was »alle« sagen.

So erzählen uns ja beispielsweise seit dem Ende der Systemkonkurrenz »alle«, nämlich vor allem europäische wie amerikanische Großautoren aus verschiedenen, langsam zerfallenden und an den Rändern hässlich ausflockenden politischen Lagern, gern große globaltheoretische Szenarien und Herleitungen zu Fragen des Interventionismus in ausgebeuteten und ausgeblu­teten Weltgegenden – mitunter ebenso sachkundig wie oft genug übertrieben selbstsicher.

Vollmanns »Ich« aber erzählt im Gegensatz dazu lieber davon, was er in Afghanistan getrieben hat, als ihm der Einfall gekommen war, Anfang der Achtziger ausgerechnet in den antisowjetischen Mudschaheddin die Avantgarde der um Freiheit ringenden Menschheit erkennen zu wollen. Dieser Einfall als solcher kommt mir reichlich naiv vor; was Vollmann aber in »An Afghanistan Picture Show« (1992) daraus macht, hätte sich am Schreibtisch niemand ausdenken können. Er spricht ungedeckt, ungeschützt und uneitel von seinem vollständigen Scheitern bei der forcierten Welt­retterei, vom westlichen Wahn der emotional begründeten Rechthaberei, den er in jene Region mitgenommen hat, von Durchfall, von Missverständnissen und Peinlichkeiten.

Und während »alle«, nämlich vor allem Guido Knopp, das deutsche Feuilleton und die internationalen Hersteller zahlreicher Hiter-Filme den Zweiten Weltkrieg als eine Art übernatürlicher Nationenkarambolage malen, die ein unerklärliches Auseinanderbrechen Europas verursachte, malt Vollmann eine im Facettenauge zahlloser Einzelstudien konkreter militärischer und po­litischer Entscheidungen und Handlungen gebrochenes Riesengemälde über die Welt zwischen Hitler und Stalin und nennt es »Europe Central« (2005).

Überzeugung hin, Recherche her: Die Lösungen sind fast egal, so goldrichtig liegt dieser Mann mit den Aufgaben, die er sich zumutet.

Wie Angst riecht

Wir leben in Zeiten, in denen der Verweis auf die schöne Binsenweisheit »Das Private ist politisch« für die emanzipatorische Aufhebung der um Rausch und Lust gruppierten Leiden kaum noch etwas reißt. Denn bei den größten Sauereien der Propagandisten von Heteronomie, Zwang und Elend im Zusammenhang mit Sex oder Drogen wird inzwischen gar nicht mehr das alte bürgerliche Schwamm-drüber-Gebot der erpressten Privatheit erhoben (»Wie oft ich meine Frau schlage, wenn ich Kokain geschnupft habe, geht keinen Außenstehenden was an«).

Stattdessen wälzt sich das postmoderne juste milieu zwischen fit-for-fun und Sextourismus längst in offener Widerwärtigkeit und quiekt dazu, als würde es dafür bezahlt. Der Boulevard macht es vor und exerziert das Regiment der Wellness und des opportunistischen Moral-Morphing (Hochzeit! Scheidung! Adoption! Entziehungskur!) an den Körpern der einschlägigen Prominenz oder beliebiger Kindsmörderinnen aus ostdeutschen Provinzkäffern durch.

Für die Gebildeteren gibt es denselben Unschlitt auch in geistiger beziehungsweise geistlicher Aufmachung. Erwachsene Intellektuelle beiderlei Geschlechts dürfen ­ihrem ebenfalls erwachsenen Publikum seit Aids wieder, als wär’s 1952, die splendiden Freuden der möglichst vor dem Erreichen des 30. Lebensjahrs geschlossenen Einehe, des staatlich geförderten Kinder­segens, der blutsverwandschaftlichen Nähe und in besonders kecken Fällen sogar der katholischen Morallehre nahe legen (an den philosophischen Fakultäten herrscht unterdessen Einmütigkeit darüber, dass sich denkende Wesen nicht komplett entehren, die mit Ratzingers Gangsterbande über Genderfragen ins Gespräch kommen wollen).

Vor solch klebrigem Hintergrund, und in bewundernswert deutlich markiertem Abstand zu diesem, erzählt William T. Vollmann in seinem ebenso oft herzquetschend traurigen wie donnerbrülllustigen Achthundertseitenroman »The Royal Family« (2000) davon, dass man Liebe eher in der Kloake als im Fitnessstudio oder vor dem Altar findet.

Die Handlung begleitet den Privatdetektiv Henry Tyler auf einer dantesken Nachfahrt. Er sucht den Mörder seiner koreanisch-amerikanischen Schwägerin Irene, die er über den Tod hinaus liebt. Was den Lebenden und die Tote verbindet, lässt sich in ruhigen, kurzen und melancholischen Sätzen sagen: »Er erwachte mit dem Geschmack von Irenes Votze im Mund.«

Die Schilderung der Welt, von der diese Verbindung auf die Probe gestellt wird, bedarf dagegen einer weiter ausgreifenden, im schönsten Sinn des Wortes lang­atmigen Syntax, eines Sturzbachs der Wörter, dem höchstens noch ein paar kürzere Kleckse folgen dürfen, als Nachtröpfeln der schäumenden Springflut, in der schäbiger Schrecken und trotzige Schönheit sich vermischen:

»Das ist das Herz der Sache, die ängstliche Frau, die nicht mehr alleine zu dem Mann gehen will, denn wenn sie das tut, wenn sie ihr sackweites Kleid ablegt und ihm ihre kranken Brüste zeigt, die fast so groß sind wie sein Kopf, oder gar nicht mehr da, oder zu Narbengewebe geworden, über das sie Tennisbälle geklebt hat, damit sie die richtigen Kurven hat; wenn sie, um ihr Fleisch zu verkaufen, dasteht und wartet, die Luft um sich her dicker macht, erstens mit dem Gestank ungewaschener Füße in Socken, die sie seit einer Woche trägt, zweitens mit ihrem Parfüm von Strumpfhosen und Höschen, die sie ebenfalls seit einer Woche nicht abgelegt hat, gestärkt von Samen und Urin, bräunlich verschmiert mit dem Dreck der Straße; drittens mit dem Muff ­ihres Kleides, das ebenfalls eine Woche nicht gewechselt wurde und besudelt ist von verschüttetem Bier und Zigaretten­asche, gewürzt vom stechenden Schweiß aus Sex, Schrecken, Fieber, Sucht – wenn sie zu dem Mann geht, und von ihm angenommen wird, wenn all diese stinkende Häute abgetan sind (entweder rasch, um es schnell über die Bühne zu bringen, oder langsam, wie ein großer Truck, der in eine Parkbucht einfährt, weil sie so müde ist), wenn sie die alternde Seele im Innern ihrer äußeren Seele anbietet und aus jeder physischen und ektoplasmischen Pore ihren vierten und alles andere übertreffenden Geruch ausatmet, der die Augen stärker zu Tränen reizt als jede Königin unter den roten Zwiebeln – fauliger wächserner Geruch zwischen ihren Brüsten, sage ich, blutiger verpisster beschissener Geruch zwischen ihren Beinen, Schweißgeruch und Unterarmgeruch, alle in ihren heiligen Schimmer eingeblendet, allgemeiner süßlicher Geruch ungewaschenen Fleisches; wenn sie sich unter Schmerzen mit ihrem Kunden niederlässt auf einem Bett, einem Fußboden, in einer Gasse, dann erwartet sie den eigenen Tod. Ihr Geruch reicht aus, um ihn daran zu hindern, ihr Herz zu erkennen, welches nicht das Herz der Sache ist. Das Herz der Sache ist, dass sie Angst hat.«

Eine moralische Frage: Wieso darf Vollmann es wagen, sich in diese Prostituierte hineinzuversetzen? Weil er seine Kunden kennt wie sie die ihren. Auch seine Künste stinken nach Erlebtem, weil er in ihnen arbeitet, statt sie bloß spazieren zu führen.

Manchmal sieht es so aus, als habe er dieselbe berechtigte Angst vor seinen ästhetisch interessierten Freiern wie die Nutte vor den Triebtätern – schnell fertig wollen ja beide Sorten mitunter sein: »Wenn Sie gerne Verallgemeinerungen sammeln wie andere Leute Briefmarken, dann könnte dieses kleine Hurenalbum von Interesse für sie sein«, schreibt Vollmann im Anhang seines Kurzromans »Huren für Gloria«, einem von einstweilen erst zwei auf deutsch erhältlichen Büchern Vollmanns (das andere ist der Afghanistan-Band).

Vollmann kürzt nicht gern. Der lange Satz verleiht bei ihm dem gleich daneben stehenden knappen die Würde der Lakonie, der knappe dagegen gibt dem langen die Ehre der Großzügigkeit. Welchen soll man also wegstreichen, wenn der Markt will, dass die Ware verdaulich sein soll, geeignet für Zugreisen und Liegestuhl? Die gekürzte Ausgabe seines Hauptwerks »Rising up and Rising down«, das eigentlich 3 300 Seiten hat, aber auch in einer nur 700 Seiten umfassenden Version im Umlauf ist, leitet Vollmann mit den Worten ein: »Es gibt nur eine Entschuldigung für diese Kurz­fassung: Ich habs für Geld getan. Anders gesagt, ich kann nicht so tun (obwohl Sie anderer Meinung sein mögen), dass diese einbändige Kompaktversion eine Verbesserung gegenüber dem vollständigen Buch darstellt. Zugleich ist sie nicht unbedingt schlechter. Zumindest besteht jetzt ja die Chance, dass jemand den Text tatsächlich liest.«

Als ihm sein Lektorat ausrichtet, man wün­sche Straffungen im Buch »Fathers and Crows« aus dem »Seven Dreams«-Zyklus über die Eroberung Amerikas durch die Weißen, schreibt er einen Brief: »Ich hoffe, Sie verstehen, dass zu starke Kürzungen an gleichgültig welcher einzelnen Stelle den Rest beschädigen, nicht nur als Kunst­werk, sondern auch als das Geschichtswerk.« Vollmann ist höflich; was er hier eigentlich meint, hat Ayn Rand in die schöne rhetorische Frage an ihre Verlagspartner gekleidet: »Würden Sie auch die Bibel kürzen?« Autorinnen und Autoren, die auf weniger hinauswollen als unkürzbare Texte, sollten zum Fernsehen oder für Horst Köhler Reden aufsetzen.

Weltkrieg

Wenn man sich Vollmanns oft fotografiertes Gesicht lange genug anschaut – den jungen Mann mit dem kleinen Schmollmund, der sich eine Pistole an den Kopf hält; den rotnasigen Schnauzbartträger in der Prolljacke, den die magere Hurenmutter Gloria umarmt; den übellaunigen, leicht aufgedunsenen Träger einer kugelsicheren Weste für Presseleute am Kriegsschauplatz; den lächelnden Kleinbürger mit der geplätteten Meckifrisur, der seine Tochter auf den Schultern trägt – dann bekommt man vom Versuch, ihm aufmunternd zuzulächeln, allmählich Gesichtsschmerzen. Sobald man diese als Gewissenbisse erkennt, ist Vollmanns Job getan.

Indem er unsere Distanz zu seinen Geschichten durch die Unbedingtheit seines Kopf- und Körpereinsatzes auf das Mindestmaß verringert, das Literatur als Literatur in ihrer Differenz vom Erleben gerade noch bestehen lässt, erzeugt er in uns eine neue, durch seine Arbeit vermittelte Distanz zu uns selbst. Wir schauen uns, wenn wir seine Bücher gelesen haben, so an, wie er uns anschauen würde – als interessante Krankheitssymptome auf zwei Beinen – und versuchen, uns vorzustellen, wie wir in seine langen oder kurzen Sätze passen könnten.

Das stört im günstigsten Fall unser alltägliches, verständliches (aber nicht verzeihliches) Bemühen darum, uns im post­zivilisatorischen Selbstmitleid typischer Bewohner der imperialistischen Metropolen einzurichten. Vollmanns Reiseschriften machen deutlich, wie unanständig es ist, dass wir in Zeiten und Gegenden leben, da un­sere Staaten andere Staaten bombardieren können, ohne dass wir das im Alltag noch irgendwie mitkriegen müssten. Wer vom Golf- oder Jugoslawien-Krieg in Frankfurt oder Seattle nichts wissen wollte, der konnte allem, was damit zu tun hatte, problemlos ausweichen (und kann es immer noch).

Es gibt kein Hinterland der neuen Fronten, wir kriegen keine Lebensmittelgutscheine verpasst und müssen keine Kriegsanleihen zeichnen. Weil das so ist, muss jede ernsthafte Beschäftigung mit dem Zustand der Welt und besonders ihrer schrump­fenden besser gestellten Regionen diesen Zustand zurück binden an das letzte große Ereignis, in dem dies alles anders war.

Das Ereignis ist der Zweite Weltkrieg und sein am meisten von Legenden und Geraune überwucherter Schauplatz ist Mitteleu-ropa – »Europe Central«, wie Vollmanns Buch darüber heißt.

Dieser Roman besteht aus rund drei Dutzend prismatisch gegeneinander versetzten Erzählungen von russischen und deutschen Vorgängen, die sich zwischen 1914 und dem letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ereignet haben; sein Gegenstand aber ist nicht dieser Zeitraum als leere Dauer, sondern im Kern zweierlei, etwas Abstraktes und etwas Konkretes. Abstrakt geht es ihm um das, was zwischen dem Beginn des Unternehmens Barbarossa und dem Kriegsende geschah; konkret um die Unmöglichkeit, das eigene Leben vor diesen Geschehnissen in Sicherheit zu bringen, an denen die Seelen in diesem Buch erkranken und die einige davon umbringen.

Man liest vom gordischen Liebeskum­mer­knoten um den Komponisten Dimitri Schos­takowitsch, die Übersetzerin Elena Konstan­tinowskaja und deren Mann, den Filmemacher Roman Karmen, man liest die bekannte Geschichte des Uniform tragenden Widerstandshelden Schultz-Gerstein und man hört schließlich Stimmen, die man, auch ohne zu wissen, wem sie ­gehören, sofort einem Lager, einem Frontabschnitt, Tätern und Opfern, einem verfehlten oder erfüllten Plan zuordnen kann: »Was uns betrifft, hatten sich noch keine Russen an unseren Mädchen vergangen; wir trugen noch unsere Waffen, und auf Befehl machten wir das X unseres Divi­sions­zeichens unkenntlich, indem wir an dieser Stelle ein V mit Balken drüber anbrachten. Wir wollten es diesen Slawen ja nicht so leicht machen, herauszufinden, mit wem sie es zu tun hatten, Sie verstehen.«

Oder, von der andern Seite: »Es scheint keine Bilder aus dem Eheleben des Genossen Karmen zu geben, nicht einmal ein gerahmtes Bild des jungen Paares. Ich habe eine Kopie des berühmten Fotos, auf dem er in einer Reihe mit fünf anderen Kriegskorrespondenten posiert, alle in Uniform, manche halten Zigaretten, und hinter ihnen sieht man ein Flugzeug, stolz geschmückt mit dem weiß umrandeten roten Stern der sowjetischen Luftwaffe. (…) Unsere nervös lächelnden russischen Jungs in ihren weiten Mänteln, die sie jetzt schon ein halbes Jahrzehnt lang im Winter wie im Sommer trugen, das waren wirklich seine Helden.«

Stimmen, Texte, Filme, Fotos: Wir dürfen, sagt Vollmann, die erzählbaren Zusammenhänge auch ohne weltanschauliche Lese­hilfen nicht verlieren, denn das einzelne Beweisstück als solches ist hilflos gegen den unbarmherzigen großen Zug der Geschichte und gegen den Vorsatz, dem Detail die Bedeutung aufzuherrschen, die neue Kriegsparteien daraus gewinnen wollen.

»Hat Freya je existiert? Porträts lassen sich fälschen«, heißt es in »Europe Central«.

Daraus folgt eben nicht, dass wir auf ­Porträts, auf Nahaufnahmen verzichten können, ebenso wenig wie auf The Big Picture, sondern nur, dass wir uns damit beschäftigen sollten, wie, wann, warum, womit wir solche Stimmen, Texte, Filme, Fotos in the first place überhaupt herstellen.

Es geht bei Vollmann, so hautnah er oft arbeitet, nie banal um Unmittelbarkeit, son­dern immer auch um die ohne falsche Scham einbekannte Künstlichkeit der lite­rarischen Arbeit als Attribut einer scharfen Klinge, die das bloß Wirkliche durchtrennt, um ans Wahre zu gelangen, dessen reizempfindliche Haut die Datenoberfläche ist: »Nur die Fachleute werden begreifen, dass Deine Übertreibungen wahr sind«, heißt es im Motto zu Vollmans erstem Roman »You Bright and Risen Angels« von 1987, einer Kriegs- und Revolutionsfarce, der ihr Autor die wunderliche Genrespitzmarke »A Cartoon« angeheftet hat.

Wer keine politischen Überzeugungen hat, die ihm helfen können, von den Erschei­nungen zum Wesen vorzudringen oder sich das wenigstens erfolgreich einzureden, ist darauf verwiesen, aus Recherche, Kalkül und fortlaufender autobiografischer Selbstbefragung eine Behelfskonstruktion zu errichten, die zwischen Möglichem und Tatsächlichem unterscheiden kann.

Die Überlegungen, mit denen sich Alfred Andersch 1974 seinen Weltkriegsroman »Winterspelt« erklärt hat, könnten von Vollmann sein: »Vielleicht zöge sich diese Erzählung am leichtesten aus der Schlinge der Fiktion, indem sie erklärte: weil es den Major Dincklage nicht gegeben hat, musste er erfunden werden. Doch wird erst, wenn man ihn umkehrt, aus dem Satz ein Schuh: weil Dincklage erfunden wurde, gibt es ihn jetzt. Erzählen heißt ja nicht: das Lasso einer Absicht über ein Objekt werfen.«

Sondern, kann man mit Vollmann aus dessen Aufsatz »Einige Gedanken über den Wert des Schreibens zu Kriegszeiten« nahtlos ergänzen: »Das gewöhnliche Gehirn ist gut genug für die meisten Dinge, die sich lohnen. Viele von uns haben das Herz, das Bedürfnis, etwas Gutes zu tun. Die Hände sind eine andere Frage (…) Worin bist du gut? Noch praktischer gefragt: Was kannst du, und hast auch die Mittel, es zu tun? Kann man ein Wandgemälde der Güte und Wahrheit malen, bevor man die richtige Mauer dafür gefunden hat? (…) Es steht bei uns, alles zu tun, was wir können, um die Beschwerden und Leiden anderer zu verstehen und ihnen in dem Ausmaß ab­zuhelfen, das uns mit Liebe und im Rahmen des Richtigen möglich ist.«

Von Historischem und Politischem zu erzählen ist »Sandkastenspiel« (Andersch) in genau diesem Sinne steter Neuentwurf eines »Moral Calculus« (wie es in Vollmanns »Rising up and Rising down« heißt), eines ethischen Abwägungskalküls; Probehandeln mit offenem Ausgang statt akkurater Umsetzung einer vorab fixierten Normvorgabe.

Dankbare Erinnerung an fliegende Städte

Das politisch Wertvollste am unpolitischen Autor Vollmann ist, dass er seine Kunst nicht in Ruhe lässt, sondern ihr dauernd politische Löcher in den Bauch fragt, sie im wörtlichen wie im übertragenen Sinn auf Reisen mitnimmt und seine Reisen dann wieder in seine Kunst einarbeitet.

In diesem Licht erscheint die Anekdote alles andere als putzig, sondern als Parabel von tiefem, bedenkenswertem Ernst, in der überliefert ist, wie Vollmann 1979 als zwanzigjähriger passionierter Spinner im eigenen Namen sowie dem eines Freundes eine Bewerbung an die Botschaft des Staates Saudi-Arabien in den USA schickte, in der er sich und den andern Bekloppten für einen steilen Spezialauftrag anbot: »Wir sind zwei amerikanische College-Studenten, die sich für den Weltraum interessieren. Wir meinen, dass Siedlungen im All nicht nur technisch und ökonomisch machbar, sondern auch wünschenswert sind.«

Vollmann und sein Kumpel wollten in den Asteroidengürtel geschossen werden: »Die Ausgaben werden zweifellos beträchtlich sein, auch die Transportkosten sind hoch. Die Theorie von Angebot und Nachfrage jedoch verweist darauf, dass diese Investitionen sich am Ende rechnen werden. (…) Unser Vorschlag lautet also, dass wir uns anbieten, mit Personen Ihrer Wahl ein machbares Arrangement auszuarbeiten, um im Asteroidengürtel Rohstoffe abzubauen. Wir hoffen, dass Sie sich dieses Angebot ernsthaft überlegen. Bitte schreiben Sie uns, wenn Sie genauere Ausführungen hierzu wünschen.«

Die Saudis wünschten nichts dergleichen. Aber der Unterschied zwischen Vollmann, der sich bis heute zum formalen, stilistischen und methodischen Einfluss bekennt, den Science-Fiction-Autoren wie James Blish, Isaac Asimov oder Harlan Ellison auf seine Arbeit gehabt haben, und anderen Träumern, die in den siebziger Jahren von solcher Literatur geprägt wurden, besteht eben darin, dass er schon damals Schritte zu unternehmen gewillt war, die das für richtig und wichtig Gehaltene in Form von Folgen für die eigene Biografie konkretisieren würden.

Zehn Jahre nach der gescheiterten Weltraummission wird Vollmann gebeten, die zeitgenössischen Autoren zu benennen, denen er sich verpflichtet fühlt. Er legt »Zeitgenossenschaft« sehr großherzig aus, und so sind nicht nur Kundera und Bernhard, sondern auch Proust und Zola dabei. Außer den anerkannten Größen aber findet sich erstaunlich viel Astronautengepäck in Vollmanns Liste: Poe ist dabei, Walter M. Miller mit seinem postapokalyptischen »Lobgesang auf Leibowitz«, Philip K. Dicks tragikomisches Drogenmärchen »A Scanner Darkly« und schließlich James Blish mit seiner »Cities in Flight«-Tetralogie – »Earthman, Conme Home« (1953), »They shall have stars« (1956), »The Triumph of Time« (1958) und »A Life for the Stars« (1962).

Ein bisschen versucht Vollmann zwar, diese Spur gleich wieder zu verwischen, er kommentiert den Hinweis auf Blish, der ein wichtiger Anreger für den Brief an die Saudis gewesen sein muss, mit dem nichts sagenden Kompliment, dessen Bücher seien »die reine Freude«.

Die Textbefunde aber sprechen für sich: Eines Tages, vielleicht schon bald, wird jemand der Beziehung zwischen Blish, der 1975 starb (als Vollmann sechzehn und also mitten im für Science Fiction empfänglichsten Lebensabschnitt war), und seinem Leser Vollmann eine zweifellos äußerst erhellende Monografie widmen.

Denn klingen nicht die Titel vieler Vollmann-Bücher, als wären sie Namen von Städten, die man zu Raumschiffen umgebaut hat, damit sie die Zustände, von denen Vollmann schreibt, ins All hinaustragen können? »You Bright and Risen Angels«, »The Atlas«, »Rising up and Rising Down«: Die Wörter schweben, die Wendungen wollen abheben.

Am Ende des letzten Bandes von Blishs großer Tetralogie werden alle Grundmelodien der Vollmanschen Weltmusik angespielt wie in einer Opernouvertüre – Mitleid, Sorgfalt, Angst, die künstlerische Konstruktion weitläufiger Modelle und Kalküle, das Zerstörerische und das Schöpferische: »Nichtsdestotrotz hielt er inne. Wozu sollte noch ein weiteres Universum von der Art gut sein, die er gerade sterben gesehen hatte? Die Natur hatte zwei von dieser Sorte erschaffen und sie im selben Moment zum Untergang verurteilt. Warum nicht etwas anderes versuchen? Retma in seiner Vorsicht, Estelle in ihrem Mitgefühl, Dee in ihrer Angst würden alle einer neuen Version des Standardmodells zur Geburt verhelfen; Amalfi aber hatte das Standardmodell so lange belastet, bis alle Schrauben herausgesprungen waren, die es zusammenhielten, und war jetzt schon beim bloßen Gedanken an all das so müde, dass er sich kaum noch dazu bringen konnte, weiterzuatmen.«

So müde: Was er schaffen muss, sieht der Schöpfer, wenn es fertig ist, nicht immer mit Vergnügen. So geht es auch dem Publikum. William T. Vollmann zu lesen, ist unter Umständen ungesund. Man kann sich etwas einfangen, das man nicht mehr loswird: einen juckenden Zweifel, ein entzündetes Gewissen, untröstliche Sorge, zur Unzeit zuckendes Mitleid.

Eine Politik, die nicht die Überwindung aller politischen Notwendigkeiten zum Ziel hat, ist wertlos. Eine Kunst, die, wenn sie von Politik handelt, von dieser Wahrheit schweigt, mag parteilich sein, aber sie paktiert mit den schlimmsten Lügen, die es gibt.

Krankheiten sind stets Selbstheilungsversuche Leidender.

Manche gelingen.