Falscher Alarm

Die Angst vor dem Nationalismus folgt einem Irrtum. In einer globalisierten Welt sind schwarz-rot-goldene Fahnen nur noch Folklore. von markus ströhlein

Ein Buch mit dem Titel »Wir Deutschen« erscheint, in den Feuilletons wird über den Patriotismus diskutiert und aus Anlass eines sportlichen Großereignisses steigt der Absatz schwarz-rot-goldener Fahnen. Sollte die Linke angesichts dieser Dinge nicht Alarm schlagen? Der deutsche Nationalismus ist wieder da! Erst wird Polen vom Platz gefegt, dann Ostpreußen heim ins Reich geholt. Bald tauschen die Deutschen ihre Fußballschuhe gegen Armeestiefel ein. Der Griff nach der WM-Trophäe ist nur die sportliche Vorübung für den erneuten Griff nach der Weltherrschaft. Die Fans singen: »Deutschland, Deutsch­land!« Aber eigentlich meinen sie: »Deutschland, Deutschland, über alles!«

Die Annahme, die diesem Szenario zugrunde liegt, lautet: Die Deutschen haben nichts aus der Vergangenheit gelernt. Chauvinismus, Revanchismus und Militarismus geistern immer noch in ihren Köpfen herum und bilden die Versatzstücke eines aggressiven Nationalismus. Diese Annahme ist falsch. Die Deutschen haben etwas gelernt. Was, das hat Matthias Matussek, der Autor des Buchs »Wir Deutschen«, aufgeschrieben. (Siehe Seite 21) Er weiß, dass »Deutschland die Schuld wie kein anderes Land bejaht und verarbeitet hat«. Matussek ist stolz darauf, »dass wir aus unserer Geschichte gelernt haben und den Krieg nicht als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betreiben«. Und er weiß, welche Eigenschaften die junge deutsche Mitte besitzt: »Sie ist kosmopolitisch, sie ist unverkracht und sie ist Deutschland.«

Matussek spricht in einer Herzens­ange­legenheit. Wer vor Krieg und Militarismus warnt, dem wird er applaudieren. Wer warnt, Auschwitz dürfe nicht vergessen werden, dem wird er beipflichten. Wer Matussek mit der Gefahr des Chauvinismus kommt, rennt offene Türen ein.

Manfred Funke, ein ehemaliger Politikprofessor an der Bonner Universität, hat seine Gedanken zum Thema im Handelsblatt veröffentlicht. Er fordert einen »Patriotismus gegen Nationalismus, Chauvinismus und populistische Inbrunst«. Ihm schwebt ein »Patriotismus in weltbürger­licher Absicht« vor.

Funke und Matussek nachzuweisen, dass ihr Patriotismus doch auf irgend­eine Art und Weise dem Nationalismus der Rechtsextremen nahe steht, gelingt nicht. Für die NPD ist Auschwitz eine Lüge, für die neuen Patrioten Bestandteil der nationalen Identität.

Die extreme Rechte hat in der laufenden Diskussion über das Heimatgefühl nichts zu melden. Die gesellschaftliche Mitte redet. Diese Mitte hat die Regierungsgeschäfte sieben Jahre lang von der SPD und den Grünen erledi­gen lassen. Ihre außenpolitischen Maximen wa­ren der Multilateralismus und der Dialog. Auch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD steht: »Wir wollen einen effektiven Multilateralismus, bei dem die internationalen Organisationen zum Zuge kommen.« Nach einer nationalistischen Wende in der Außenpolitik klingt das nicht.

Wer sich dennoch über den vermeintlich wieder erstarkenden Nationalismus der Deutschen aufregt, stellt vor allem eine Frage nicht: Mit welchem Wir hat man es zu tun, wenn es heißt »Wir Deutsche«? Manfred Funke spricht es aus: »Angesagt ist eine Neuverpflichtung des Staates und der Bürger auf ein Allgemeinwohl, das den sozialen Verfall stoppt. Aus Einzelpflichten ergibt sich das Gesamtinteresse, nicht nur in, mit, gar von dem Staat zu leben, sondern für ihn.« Ferner warnt er vor einer »kälteren und egoistischeren Zukunft«, schimpft darüber, dass »die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer werden«, Staat und Politik nichts »gegen die Steuermoral ganz oben« unternehmen und es dem Mittelstand an den Kragen geht. Zustimmung dürfte er für diese Äußerungen aus allen Richtungen bekommen. Denn Ähnliches steht im Manifest der Linkspartei, im Grundsatzprogramm der CDU, in den »Leitsätzen« der SPD. Zum »Wir« werden die Deutschen nicht im nationalistischen Taumel. Sie werden zum Wir, wenn mit dem von Oskar Lafontaine so bezeichneten »übersteigerten Individualismus« Schluss gemacht wird und alle in Staat und Volk aufgehen.

Die Aufregung über den Nationalismus ist daher überflüssig. Auch deshalb, weil Nationalismus insgesamt ein alter Hut ist. In einer Welt der globalisierten Wirtschaft hat das Kapital kein Interesse mehr an nationalen Lösungen. Auch die neue deutsche Liebe zur Nation ist deshalb nach der WM, wenn die Fußballfans ihre schwarz-rot-goldene Schminke von der Backe gewischt und ihre Volltrottelkostüme in den Schrank gehängt haben, eine Liebe von gestern.