Schunkeln, singen, Fahnen schwingen

Deutschland, Deutschland! Über den Fußball und die Fahnen. von deniz yücel

Wenn man nicht mehr weiter weiß, kann man immer noch Mama fragen. Mama sagt: »Die deutschen Fahnen machen mir nichts aus. Damals, als die Deutschen sich vereinigt und auch noch im Fußball gewonnen haben, war es schlimm. Da hatte ich bei jeder Fahne das Gefühl: Die richtet sich gegen die Unsrigen. Das ist jetzt anders. Die Çeviks von gegenüber haben sogar die deutsche Fahne gehisst. Und meine kleine Enkelin hat sich die Wangen schwarz-rot-gold bemalt. Ist doch okay.«

Es ist beruhigend, dass Mama nicht beunruhigt ist. Auch ich muss gestehen, dass ich nichts von der Aggression und der Beunruhigung verspüre, die mich vor nicht allzu langer Zeit bei dem Anblick eines solchen Fahnenaufgebots ergriffen hätten. Sogar die Gewohnheit, aus vorauseilender Schadenfreude und vorbeugender Pogromabwehr der deutschen Mannschaft immerzu ganz unsportlich Pest, Cholera und das Vorrundenaus an den Hals zu wünschen, hat sich verflüchtigt, ich ertappe mich sogar dabei, ihrer unterhaltsamen, man möchte fast sagen: undeutschen Spielweise Lob zu zollen.

Dabei gibt es in meiner Erinnerung (und ich denke: nicht nur in meiner) ein Bild, das deutschen Rassismus und deutsche Erfolge im Fußball verdichtet: der berühmte feixende Deutsche nämlich, der beim Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im Herbst 1992 fotografiert wurde, mit der linken Hand die Bierdose umklammernd, die rechte zum Hitlergruß erhoben, mit vollgepinkelter Jogginghose und gehüllt in das gleiche Trikot, in dem Matthäus-Klinsmann-Völler zuvor Weltmeister geworden waren.

Der Übergang von der deutschtümelnden Vereinigungseuphorie zum rassistischen Mord und Totschlag war fließend vonstatten gegangen, mit einigem Recht durften sich die Neonazis als Vollstrecker dessen betrachten, was alle dachten und wollten, nämlich die »Asylantenflut« zu stoppen. Derweil überwand Deutschland die Nachkriegszeit, und in einem atemraubenden Tempo schien eine politische und moralische Beschränkung nach der anderen zu fallen. Das Land meldete Ansprüche an, künftig in aller Welt mitzureden und notfalls auch einzumarschieren.

»Wir sind über Jahre nicht mehr zu besiegen. Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber es ist so«, prahlte der damalige Teamchef Franz Beckenbauer nach dem Sieg im Finale von Rom im Jahr 1990, und für mich und meinesgleichen, die in diesem »Wir« entweder gar nicht vorgesehen waren oder sich lieber als »Rest der Welt« denn diesem »Wir« zugehörig verstanden wissen wollten, war es niederschmetternd und furcht­erregend, dass manches dafür sprach, diese großkotzige Ankündigung könne leider nicht nur im Fußball wahr werden.

Es kam anders. Hristo Stoitchkov und Yordan Letchkov, später noch mal Davor Suker belehrten Beckenbauer gottlob eines besseren, auch politisch entstand etwas anderes als ein »Viertes Reich«. Andere westliche Staaten schlossen sich der deutschen Politik auf dem Balkan an, die nationalsozialistische Vergangenheit wurde nicht entsorgt, sondern zum Kernbestand einer neuen nationalen Identität erhoben.

Die Einwanderer mögen zwar immer noch Gegenstand von sozialtechnischen Maßnahmen sein, aber daran, dass sie zu diesem Land gehören, zweifelt niemand mehr, außer ein paar Nazis. Und wer sich als Antisemit zu erkennen gibt, wird in den Medien mit einer Einhelligkeit kritisiert, die noch die Einhelligkeit übertrifft, die beim Ruf nach einem »Umbau des Sozialstaates« zu hören ist. Andererseits kann bei vollem Verstande auch niemand behaupten, das Gegenteil wäre wünschenswerter.

Was aber folgt daraus? Gibt es noch immer einen Grund, den deutschen Nationalismus im Besonderen abzulehnen, einen Grund, der darüber hinausgeht, dass der Nationalismus hierzulande uns mehr beschäftigen muss als ein Nationalismus anderswo? Handelt es sich bei diesem Wandel nur um Propaganda? Haben, zumindest auf absehbare Zeit, Rassismus und Antisemitismus, tatsächlich die Aussicht, von einer Stammtisch-Folklore zur Staatsideologie zu werden? Künden die Reibereien zwischen Deutschland und den USA von künftigem Unheil? Ist das deutsche (besser: europäische) Grenzregime, so inhuman es ist, wirklich rassistisch? All dies zu verneinen, bedeutet jedenfalls nicht zwingend, sich im Autokorso einzureihen.

Natürlich, wer das hässliche Deutschland sucht, wird es auch in diesen Tagen finden. Sicher gibt es unschöne Szenen, und vermutlich wird es davon noch mehr geben. Sicher titeln die Dröhndeutschen von der Bild-Zeitung »schwarz-rot-geil« und verfasst Franz-Josef Wagner in Fraktur »Liebesbriefe an Deutschland«. Aber sind diese Dinge wirklich charakteristisch für die derzeitige Stimmung? Ist die Begeisterung für die WM und für die deutsche Nationalmannschaft viel mehr als (halborganisierte, halb spontane) Partylaune?

Wäre es nicht ebenfalls befremdlich, wenn die Gastgeber eines solchen Spek­takels nicht feiern, hupen und mit Wimpeln herumwedeln würden? Sehen deutsche Sozialpädagoginnen in brasilianischen Tops und deutsche Studenten mit England-Fahnen wirklich vorteilhaft aus? Ist es nicht bemerkenswert, dass zahlreiche Deutsch-Türken, Deutsch-Araber etc. sich am munteren Fahnenschwenken beteiligen? Sind Odonkor, Asamoah, Klose, Podolski und Neuville nicht ein passabler Ausdruck davon, dass die völkische deutsche Nation sich allmählich zu einer republikanischen wandelt?

Es sind dies nicht die einzigen Fragen, die man dieser Tage stellen kann. Eine etwas aus der Mode gekommene linke Tradition besteht darin, nach Klassen zu fragen, wenn einer von der Nation daherredet. Doch aufschlussreich könnte es sein.

Gewiss wehen in Kreuz­berg oder Neukölln neben deutschen Fahnen auch zahlreiche andere. Wer aber in diesen Tagen durch Berlin fährt, wird feststellen, dass die Grenze nicht zwischen Kreuzberg und Marzahn verläuft, sondern zwischen Kreuz­berg/Marzahn und dem Grune­wald. Dort, wo das Berliner Bürgertum wohnt (gut, sagen wir: wo die Berliner mit Patte wohnen), erblickt man eher einen Gartenzwerg im Vorgarten als eine deutsche Fahne. Jede Wette, dass eine quantitative Studie folgende Formel bestätigen würde: Je Stütze, desto Fahne. Es sind gerade diejenigen, die auf eine Alimentierung durch den Staat angewiesen sind, die sich an seine Symbole klammern, obwohl sie von ihm immer weniger zu erwarten haben.

In der vorigen Woche wurde endgültig die Erhebung der Mehrwertstuer beschlossen, die größte Anhebung einer allgemeinen Verbrauchssteuer in der bundesdeutschen Geschichte. Zugleich wurde darüber beraten, die Unternehmenssteuer zu senken. Und vielleicht wird noch vor dem WM-Finale eine Gesundheitsreform beschlossen, die eine schon stattfindende Entwicklung beschleunigen wird, nämlich dass man es den Leuten wieder an den Zähnen ansehen wird, aus welchen Verhältnissen sie kommen. Niemand wird mit einem verfaulten Gebiss Weltmeister. Aber vielleicht lässt einen das eine das andere vergessen. Ein paar Wochen lang zumindest.

Und ich gestehe: Auch ich habe in den letzten Tagen aufgeregter über deutsche Fahnen und afrikanischen Fußball geredet als darüber, dass Lebbe nicht nur weitergeht, sondern teuer wird.