Gehen oder sterben

Noël Martin, seit einem Angriff von Rechtsextremisten vor zehn Jahren ­querschnittsgelähmt, hat seinen Selbstmord angekündigt. Bis dahin kämpft er gegen Rassismus. von jörg kronauer

Zum zehnten Jahrestag des Überfalls auf ihn erhielt Noël Martin noch einmal die Aufmerksamkeit, die er verdient. Der Name des Briten stand in den Zeitungen, sogar in der Springer-Presse und im regionalen Fernsehen wurde an seine Geschichte erinnert. Vielleicht war es zum vorletzten Mal, dass die deutsche Öffentlichkeit von Martin Notiz nahm, einem der wenigen Opfer deutscher Neonazis, die größere Beachtung fanden. Zum letzten Mal könnte man im Juli 2007 von ihm hören. Dann feiert er seinen 48. Geburtstag, und an diesem Tag möchte er, das hat er Mitte Juni angekündigt, sein Leben beenden.

Noël Martins Biographie ist geprägt von Erfahrungen mit Rassismus. Im Jahr 1959 in der damaligen britischen Kolonie Jamaika geboren, machte er wegen seiner dunklen Haut schon bald üble Erfahrungen mit Rassisten. »Als ich vier Jahre alt war, wollte mich ein Weißer auf Jamaika mit einem Messer umbringen«, erzählte er kürzlich einem brandenburgischen Lokalblatt. Auch auf der britischen Insel, wohin er 1969 übergesiedelt war, habe er »immer wieder mit rassistischen Beschimpfungen zu tun« gehabt, berichtete Martin der Berliner Zeitung.

In den neunziger Jahren ging er nach Deutschland, um dort auf dem Bau zu arbeiten. Es war am 16. Juni 1996, dem Tag, an dem das deutsche Team bei der Fußball-Europameisterschaft in Großbritannien gegen Russland antrat. Martin befand sich mit zwei Kollegen auf der Fahrt nach Halle und legte einen Zwischenstopp am S-Bahnhof Mahlow ein. Dort wurden die drei von rechten Jugendlichen angepöbelt.

Als die Männer ins Auto stiegen und losfuhren, folgten ihnen zwei der Jugendlichen. Durch den Aufprall des sechs Kilo schweren Feldsteins, den die beiden Neonazis in das Seitenfenster geworfen hatten, verlor Martin die Kontrolle über den Wagen, der in voller Fahrt gegen einen Baum prallte. Seine Kollegen kamen mit einem Schock und leichten Verletzungen davon. Martin schwebte mehrere Tage in Lebensgefahr, verbrachte Wochen auf der Intensivstation und fünf Monate in einer Rehabilitationsklinik. Bis heute ist er vom Kopf abwärts querschnittsgelähmt. »Wenn ich auch zehn Jahre nach dem Überfall nicht gehen kann, dann gehe ich«, hatte er nach dem Angriff zu seiner Frau ­Jacqueline gesagt.

Noël Martin, der seit dem Anschlag wieder in Birmingham lebt, versucht nach wie vor, gegen Rassismus zu kämpfen. »Veranstaltungen, die Jugendliche aus Brandenburg mit Jugendlichen aus anderen Ländern zusammenbringen«, seien für ihn »das Wichtigste«, um rassistischen Anschauungen vorzubeugen, sagte er kürzlich der Märkischen Allgemeinen. »Macht nicht nur ein internationales Straßenfußball-Turnier in Mahlow oder anderswo in Brandenburg. Macht das drei-, viermal im Jahr!« Zum fünften Jahrestag des Verbrechens initiierten Freundinnen und Freunde Martins einen Aktionstag mit einem Gottesdienst und einem Rockkonzert in Mahlow, in diesem Jahr, zum zehnten, gab es einen Gedenkmarsch. Das hilft gegen das Vergessen.

Auch Orazio Giamblanco ist nicht völlig vergessen. Seit 1997 berichtet der Tagesspiegel Jahr für Jahr über den Bauarbeiter aus Sizilien, der im selben Jahr wie Noël Martin Opfer deutscher Neonazis wurde. Zwei rechte Schläger überfielen Giamblanco und zwei italienische Kollegen am 30. September 1996 in Trebbin, einer der beiden hieb dem 55jährigen einen Baseballschläger auf den Kopf. Mit Mühe und Not konnten die Ärzte sein Leben retten. Doch auch er spürt die Folgen bis heute. Spastische Lähmungen, Kopfschmerzen, Sprachstörungen und Depressionen gehören zu den Nachwirkungen, die Giamblanco – inzwischen Mitte 60 – wohl nicht mehr loswerden wird.

Martin, Giamblanco – es kommt nicht häufig vor, dass man die Geschichte der Opfer kennt. Um die Namen derjenigen, die das Zusammentreffen mit Neonazis nicht überlebten, bemüht sich die Wanderausstellung »Opfer rechter Gewalt seit 1990 in Deutschland«, die gegenwärtig in Blankenfelde-Mahlow gezeigt wird. 131 Menschen werden dort genannt: von Mahmud Azhar, den ein Rassist am 7. Januar 1990 in der FU Berlin mit einem Feuerlöscher erschlug, über den Schwulen Klaus-Peter Beer, den zwei Naziskins am 7. September 1995 in der Vils ertränkten, bis zu Oleg V., einem Aussiedler, den drei Rechte am 21. Januar 2004 in Gera erstachen.

Weit zahlreicher sind die unbekannten Opfer, welche die Angriffe überlebten und oft bis heute mit den Folgen zu kämpfen haben. 1 034 politisch motivierte Gewalttaten von Rechten verzeichnet die Statistik des Bundesinnenministeriums allein für das Jahr 2005. Die Rubrik beinhaltet neben Körperverletzung auch Landfriedensbruch und Raub, doch muss bezweifelt werden, dass sie alle gemeldeten rechten Attacken umfasst. Von dem namenlosen Schwarzen, der Ende April in Wismar krankenhausreif geprügelt wurde, hieß es schon bald, er sei lediglich zum Opfer einer gewöhnlichen Rauferei geworden.

Gibt man den Opfern ihre Geschichte zurück, dann wird schemenhaft das Gewaltpotenzial deutlich, das in der deutschen Gesellschaft steckt. Für die Todesopfer der Jahre 1990 bis 2004 hat das Rebecca Forner aufzuzeigen versucht, die Autorin der Wanderausstellung »Opfer rechter Gewalt«. »Ohne viele Erklärungen oder Kommentare zeige ich mit der Dokumentation die Realität, an der sich der Kampf gegen Rechts messen muss«, hat sie vor zwei Jahren über ihr Konzept gesagt.

Noël Martin beteiligt sich selbst an diesem Kampf. Er sammelt Geld für den »Jacqueline und Noël Martin Fonds«, der den deutsch-britischen Jugendaustausch fördern und damit Vorurteile abbauen helfen soll. Enttäuscht ist Martin über die geringe Resonanz, die sein Projekt findet, aber auch über die Entwicklung in Deutschland insgesamt. »Ich habe den Eindruck, dass sich nicht viel geändert hat«, sagte er kürzlich resigniert.