Für meine Schwester!

Kaum etwas beschäftigte die Fußballfans so sehr wie der Kopfstoß Zinedine Zidanes gegen Marco Materazzi. Schließlich ging es um die Verteidigung der Familienehre. von elke wittich

Eine kurze Drehung aus dem Stand, ein etwas längerer Anlauf mit gesenktem Kopf, Rumms und Aus. So lässt sich die letzte Aktion des französischen Fußballnationalspielers Zinedine Zidane grob zusammenfassen. Die Folgen seines Kopfstoßes gegen den Italiener Marco Materazzi sind dagegen dauerhafter. Noch in der vergangenen Woche lag das Stichwort »Zidane Headbutt Video« im Suchmodus »Google-Zeitgeist« weit vor aktuellen politischen Schlagwörtern wie Israel oder Libanon auf dem ersten Platz, »youtube« wurde folgerichtig zur am meisten angeklickten Seite. Gleichzeitig machten mehr oder weniger witzige Mails mit selbst gemachten Persiflagen die Runde, immer ein Zeichen dafür, dass ein Thema die Öffent­lichkeit sehr beschäftigt.

Das Interesse an Zidanes Foul rief zusätzlich Cyber­kriminelle auf den Plan, wie der Viren-Warndienst Websense am vergangenen Wochenende mitteilte. So wurde eine gefälschte Webpage über die Fußball-WM gezielt benutzt, um einen Trojaner in Umlauf zu bringen. Wer auf die Titelgeschichte klickte, die weitere Einzelheiten über den berühmtesten Kopfstoß der Fußballgeschichte versprach, fing sich den tückischen Virus ein.

Drehung, Anlauf, Rumms und Aus – Zidanes Foul wurde darüber hinaus auch politisch verwertet. Der iranische Parlamentarier Alaeddin Boroujerdi beglückwünschte Zidane schriftlich zu seiner »logischen Reaktion« und der gelungenen Verteidigung gegen Beleidigungen seiner »menschlichen und islamischen Identität«. Die iranische Tageszeitung Kayan brachte unter der Titelschlagzeile »Zidanes stolzer Abschied – Der beste Spieler der WM verteidigte seine islamische Identität« zwei Fotos des Fouls auf der Titelseite. Dass Zidane sich selbst als »nicht praktizierenden Muslim« bezeichnet, mit einer Christin, die früher als Tänzerin arbeitete, verheiratet ist und die gemeinsamen Söhne keine arabischen Vornamen tragen, interessierte vermutlich weder den Parlaments­abgeordneten noch die Zeitungsmacher.

Zidane saß währenddessen bereits in einem Fern­sehstudio und gab ein rund halbstündiges Interview. »Glauben Sie denn auch nur eine Minute lang, dass ich nur zehn Minuten vor Schluss eines Matchs mich aus nichtigem Grund zu einer solchen Tat hätte hin­reißen lassen?«, fragte er rhetorisch. Die einzige logische Antwort darauf wäre ein Ja. Denn in seiner Karriere brachte es der Spieler Zidane seit 1993 schließlich auf insgesamt 14 Platzverweise, »zwei mehr als Vinnie Jones«, der für seine überaus harte Spielweise berühmte britische Profi, wie englische Kommentatoren süffisant anmerkten. Die Liste der Fouls Zidanes umfasst dabei mit dem Versuch, einen Elfmeter zu schinden, nur ein einziges harmloseres Vergehen, ansonsten besteht sie aus rotwürdigen Regelverstößen wie Wegstoßen, Schlägen und bewusstem Nachtreten. Und einen Gegner per Kopfstoß auszuknocken, war durchaus auch schon vor dem diesjährigen Finale gegen Italien Bestandteil des Zidaneschen Repertoires. Im August 1995 schlug er dem damaligen Karlsruher Spieler Thorsten Fink ins Gesicht. Bei der Weltmeisterschaft 1998 trat er dem am Boden liegenden saudischen Kapitän Fuad Amin vorsätzlich auf den Knöchel und erhielt zusätzlich zur Roten Karte später noch eine Sperre für zwei Spiele. Als Juventus-Spieler im Cham­pions-League-Match gegen den Hamburger SV im Oktober 2000 rammte er Jochen Kientz gleichermaßen grundlos wie bewusst den Kopf in den Bauch und wurde für fünf Spiele gesperrt. Und bei der diesjährigen WM ­verpasste er das dritte Spiel der Gruppenphase gegen Togo wegen einer Gelbsperre aufgrund eines unnötigen Fouls.

Was dem Kopfstoß voranging, bleibt der Öffentlichkeit weiterhin verschlossen. Gleich nach dem Abpfiff engagierten Fernsehsender wie die brasilianische Station Globo und Zeitungen wie der britische Mirror Lippenleser, aber die kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Fest steht nur: Marco Materazzi hat nicht Zidane, sondern wohl dessen Schwester beleidigt, über den genauen Wortlaut schweigen sich beide Akteure jedoch bis heute aus.

Und so kursieren verschiedene Versionen dessen, was vielleicht gesagt wurde, die, je nachdem, ob man Zidane nun mag oder nicht, von den Fans geglaubt werden und als Entschuldigung für das Verhalten des Stürmers gelten. Wobei die gleichen Fans Woche für Woche auf Fußballplätzen herumstehen und dort wahllos alles und jeden beleidigen. Vor allem Schiedsrichter, für die gesungene Gewalt­an­dro­hungen zum Alltag gehören. Falls die Referees davon eines Tages genug hätten und konsequent nach der allerersten persönlichen Beleidigung oder Bedrohung abpfeifen würden, wären die Chancen nicht schlecht, dass bis hinunter zur Kreisklasse kein einziges Match regulär beendet werden würde.

Wobei die Spieler ein solches Verhalten der Schiedsrichter sicher ebenfalls nicht verstehen würden, denn den Gegner mit gemeinen persönlichen, allerdings nicht rassistischen Sprüchen aus dem Konzept zu bringen, ist ein durch­aus anerkanntes taktisches Mittel. Selbst Schuld, wer sich dadurch aus dem Konzept bringen lässt, meinen viele Trainer und Fußballer, und einen Versuch sei so eine gezielte Provokation durchaus wert.

Ende vergangener Woche gab die Fifa die Strafen für die beiden Nationalspieler bekannt: »Zidane 3, Materazzi 2«, titelte die Singapurer Zeitung ENT. Und fragte, ob die Sperren und »die lächerlich geringen Geldstrafen« wirklich abschreckenden Charakter hätten, »und, vor allem: Wird jetzt wirklich jede Provokation vor die Fifa-Gerichte gebracht?« Dürfte »beispielsweise Wayne Rooney, wenn ihn jemand ›hässlich‹ nennt, zuerst das Gesetz des Dschungels anwenden und sich dann später offiziell beschweren?« Und könnte er mit der Hilfe der zuständigen Institutionen rechnen, die auch für diesen Fall eigens ein Hearing ansetzen würden? »Sagt eigentlich irgendjemandem das Wort peanuts noch etwas?« fragt der Kommentator abschließend.

Was wäre eigentlich gewesen, wenn, sagen wir, Sebastian Schweinsteiger einem Gegenspieler den Kopf in die Magengegend gerammt und hinterher erklärt hätte, das Foul täte ihm zwar leid, aber er würde es jederzeit wieder genau so begehen? Und wenn kurz danach Mutter Schweinsteiger mit den Worten zitiert worden wäre, sie sei stolz auf ihren Sohn, der die Familienehre verteidigt habe, und im Übrigen müsse man seinem Gegenspieler die Eier abschneiden?

Ganz einfach: So etwas wäre nicht passiert, weil die Beleidigung der Ehre weiblicher Angehöriger für die wenigsten Spieler bei einem derart wichtigen Match wie dem Finale der Fußballweltmeisterschaft so wichtig wäre. Im Übrigen sind Schwestern schon seit einigen Jahrzehnten selber in der Lage zu entscheiden, ob sie beleidigt wurden, und können etwaige Idioten ganz allein mit ein, zwei gezielten Ohrfeigen zur Räson bringen.