Kalkulierter Ausnahmezustand

Nicht die Fahnen waren das Problem, sondern jene, die die Realität zum Märchen von einer perfekten Weltmeisterschaft umdichteten. von ambros waibel

Bereits Mitte Mai, ein paar Wochen vor dem Beginn des Spektakels, wurde in Berlin der WM-Pokal präsentiert. Da die Inszenierung erbärmlicher nicht hätte sein können, lungerte auch ein Team des ZDF herum. Aber die zur besten Arbeitszeit in Scharen anstehenden verwahrlosten Alkoholiker schienen dem Personal des Greisensenders nicht vorzeigbar, und weil man vergessen hatte, sich ein paar Schauspieler mitzubringen, fielen sie über meine Freundin her, die – heldenhaft und bedauernswert – in der Schlange den Platz für die Fußballmannschaft unseres Sohnes freihalten musste.

Ob sie schon gespannt darauf sei, den Pokal zu sehen, fragten die Fernsehreporter, und mei­ne Freundin erklärte ihnen den Sachverhalt, dass sie quasi gegen ihren Willen dort stehe und nur weil sie eine gute deutsche Mutter sei, dass sie den Hype um ein Stück Metall schwach­sinnig und die Mitanstehenden durch die Bank problematisch finde. Da bekam sie zu hören, so etwas könne man jetzt nicht gebrauchen, und das Fernsehteam zog weiter.

Die Journalisten hatten den Auftrag, das WM-Märchen zu erzählen, und das taten sie auch. Aber zumindest nachdem sie genügend Kinder und Jugendliche, denen man Märchen noch erzählen kann, im Kasten hatten, hätten sie – als die so genannte vierte Gewalt – die Pflicht gehabt, die Wirklichkeit einzufangen und die wahre Story zu bringen. Was die deutschen Me­dien an Berichterstattung abgeliefert haben, war eine wahrlich der DDR würdige Gleichschaltung. Und das war für mich das eigentlich Üble an dem ganzen Geschehen.

Dass es sich tatsächlich um ein Märchen han­delte, kann ich beurteilen, denn mein Job beschert mir das Missvergnügen, jeden Tag zwei Dutzend deutsche Lokalzeitungen zu lesen, die von Rostock bis Lahr erscheinen; und um der Sache den richtigen Schwung zu verpassen, ergab es sich zudem, dass mich mein Weg zur Arbeitsstelle per Fahrrad unerbittlich an der Fanmeile auf der Straße des 17. Juni vorbeiführ­te. Menschen, die Bier trinken, müssen pissen, und wenn es dann stinkt, sind sie nicht schuld. Aber Menschen, denen ich mich hätte anschlie­ßen, mit denen ich hätte feiern wollen, habe ich dort nicht gesehen. Ästhetisch gesehen, war die Deutschlandfahne dort das geringste Übel.

Fußballschauen war ja mal vor allem ein Vergnügen für die Leute, die mindestens fünf Tage harter, entwürdigen­der Arbeit hinter sich hatten und deswegen an ihrem freien Tag zu erschöpft waren, um sich die Zeit besser zu vertreiben. Schon das war ein Fortschritt, denn bevor der Sport zu den Massen kam, wurde der proletarische Sonntag einfach versoffen, und dabei kamen viele unschöne Dinge heraus.

Wie gesagt: Kinder und Jugendliche (und Be­rufs­jugend­liche) haben das WM-Märchen erlebt, haben ihre Party gefeiert und dabei – nicht nur in Deutschland – Fahnen geschwenkt, weil man solche Lappen eben braucht, um eine Gruppenidentität zu stiften. Sie haben gesoffen, Schreikrämpfe bekommen, sich in Podolski verliebt und in die Kragen der vor ihnen Stehenden gekotzt.

Eine verdammt intelligente und wun­derschöne junge Frau mit Migrationshintergrund, neben der ich im linken Marburger Café Trauma beim Halbfinale Deutschland gegen Italien saß, war nach dem Spiel nicht mehr in der Lage, sich über Literatur und Kunst zu unterhalten. Es half nichts, dass die sie umgebenden Mittdreißiger ihr geduldig zu vermitteln versuchten, die Azzurri seien doch von Anfang an deutlich überlegen gewesen. Sie war ein von unerzogenen Emotionen gepeitscher Deutschland-Fan, wie auch die beiden Pun­kerinnen, die sich während der gesamten Partie da­rüber austauschten, wer süßer sei, ihre Freunde oder Philipp Lahm. Das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben.

Ich hörte den subproletarischen Jugendlichen, der im schönsten nordhessischen Platt gegen die Millionäre wetterte, die ihn hängen gelassen hätten, und den verständigen Jüngling mit langem, gelocktem Haar, der froh war, dass die na­tionalistische Sause ihr gerade noch rechtzeitiges Ende gefunden hatte. Gegen all das ist, wie man so sagt, nichts zu sagen, denn es ist eben Kinderkacke oder feiner ausgedrückt Jugendkultur – also für Entwachsene unzugänglich, uninteressant und belanglos. Wenn die gleichen Jugendlichen auf öffent­lichen Plätzen mit einer Sauforgie ihr Abitur feiern, wird in deutschen Provinzstädten – etwa in Bayreuth – schon mal der Notstand ausgerufen, und man zeigt ihnen, wo der Hammer hängt.

Die Weltmeisterschaft war ein aus poli­tischem Kalkül zugelassener Ausnahmezustand. Interessant war hierbei, dass der deutsche Staat offenbar durchaus über die Mittel verfügt, die Sicherheit aller seiner Bürger und Gäste weitgehend zu gewährleisten. Auch Schönbohm und Wowereit könnten dafür sorgen, dass Berlin und Bran­denburg zu sicheren Gegenden für Nicht-Nazis werden. Vielleicht wollen sie es nicht, gerade bei Schönbohm drängt sich der Verdacht auf, er spare sich die Schlägerbanden für eine zukünftige innenpolitische Verwen­dung auf.

Abgesehen davon hilft die Anwesenheit der Polizei natürlich auch nicht immer. Als italienische Fans beim Finale auf der Berliner Fanmeile von Deutschen übel traktiert wurden und sich Hilfe suchend an die nächs­ten Beamten wandten, zeigten die ihnen den Mittelfinger. So erging es Bekannten von mir.

Die deutsche Presse sparte sich eine kri­tische Berichterstattung für die Nachlese auf. Als alles vorbei war, durfte auch mal ­jemand ran, der sagte, das doch alles nicht so perfekt gewesen sei, wie man es in den Wochen zuvor geschrieben habe. Und dabei meine ich jetzt nicht nur Fälle von Rassismus und Gewalt.

Keine deutsche Zeitung hatte etwa einen Artikel aus der Gazetta dello sport aufgegriffen, in dem ein Satireteam des italienischen Fernsehens – Trapattoni nannte es mal »Die drei Arschlöcher« – berichtet, es hätte den von der Firma Strenesse ausgestatteten Jogi Löw dabei gefilmt, wie er auf der Trainerbank ausgiebig in der Nase bohrte, sich dann die Finger unter die Achseln steckte, um sie anschließend an seine Nase zu halten und den Schweißfaktor zu prüfen. So etwas Bezeichnendes über den Zivilisationsgrad eines deutschen Bundestrainers ver­öffentlicht eine deutsche Zeitung nicht.

Unerträglich – wenn der Zusammen­hang zwischen Fußball und Nationa­lismus diskutiert werden soll – waren also nicht die mehr oder minder debilen Fans und ihr onanistisches Fahnen­geschwenke; unerträglich waren die deutschen Intellektuellen, die Betriebs­nudeln und Beiprogrammorganisierer. Nennen wir sie stellvertretend André Heller und Klaus Theweleit. Versagt haben sie vor der wirtschaftlich und politisch herrschenden Klasse, die ganz rational die Weltmeisterschaft für ihre Zwecke instrumentalisieren wollte (ein Pleonasmus, schon klar) und das auch souverän durchgezogen hat.

Insofern kann ich nichts Neues erkennen, ganz wie der hysteriefreie Felix Magath nichts Neues an Jürgen Klinsmanns Trainingsmethoden erkennen mochte. Die deutschen Gastgeberstädte sind erleichtert, dass sie endlich die zarte und hart antrainierte Hülle der Freundlichkeit wieder ablegen können. Und wenn schon alles beim Alten bleibt, dann wird Bayern hoffentlich wieder Meister. Wie sagte einst Bixente Lizarazu: »Es geht erstens um Spaß und zweitens darum, den Gegner leiden zu sehen.« Als Bayern-Fan muss ich mir den Gegner nicht aussuchen: Er heißt immer wieder Rest-Deutschland, der Weltmeister der Engherzigen, ein quen­gelndes Kollektiv von ewig zu kurz Gekommenen, das Verlierer wie Sieger feiert.