Wer nicht blöd bleibt

Auch in der DDR gab es Linke. Den Schriftsteller BK Tragelehn etwa, von dessen Arbeiten nun ein Sammelband erschienen ist. von felix klopotek

Man kann einen Text über BK Tragelehn so anfangen, dass der Leser denkt, es handle sich um absurdes Theater. Vielleicht muss man sogar so anfangen, weil es auf eine andere Art nicht möglich ist, sich dieser geradlinigen Bio­graphie in verwickelten Zeiten zu nähern.

Also: Im Jahr 1987 sitzen Heiner Müller und BK (bürgerlich: Bernhard Klaus) Tragelehn dem westdeutschen Journalisten Christoph Müller gegenüber und diskutieren über Probleme der Shakespeare-Übersetzung. Tragelehn: »Es kann kein Stück geben, das auf einer westdeutschen Baustelle oder in einer westdeutschen Fabrik spielt, das in Versen geschrieben wird – das geht nicht, weil, es ist ein prosaischer Gegenstand. Aber ein Stück, das in einer Fabrik der DDR spielt oder auf einer Baustelle der DDR, kann in Versen geschrieben werden, weil es ein poetischer Gegenstand ist.« Christoph Müller: »Warum ein poetischer Gegenstand?« Tragelehn: »Moment. Und diese Sachlage, die sich einfach auch darin niederschlägt, dass es Versstücke, die in west­deutschen Betrieben spielen, nicht gibt, und Versstücke, die in Fabriken der DDR spielen, gibt, hat ihre Auswirkungen auch auf die Shakes­peare-Übersetzung.« Christoph Müller: »Noch einmal: Warum?« Tragelehn: »Der Grund ist ganz simpel. In einer westdeutschen Fabrik wird Geschichte eher erlitten, und hier in einer Fabrik wird mehr Geschichte gemacht.«

Das klingt sonderbar, unglaublich weit weg, und auf einen Künstler, der die DDR lobt, wird in ganz Deutschland seit ziemlich genau 16 Jahren verzichtet. Schaut man näher hin, scheint es noch absurder zu werden. Denn die Lebensdaten Tragelehns legen nahe, dass er das Zeug zum Dissidenten hatte: 1936 wird er in Dresden geboren, in den fünfziger Jahren schlägt er sich zunächst als ungelernter Handwerker durch. 1955 gerät er an Bertolt Brecht und wird sein letzter Meisterschüler. Wenig später beginnt seine Freundschaft mit Heiner Müller. 1961 inszeniert er dessen Skandalstück »Die Umsiedlerin oder Das Le­ben auf dem Lande«, eine rea­listische Darstellung der Kollektivierungsprozesse in der Landwirtschaft der DDR. Das Stück wird als konterrevolutionär gebrandmarkt und Tragelehn aus der SED geschmissen. Er erhält Arbeitsverbot und muss zur Bewährung für längere Zeit in den Braunkohletagebau.

Heiner Müller schreibt in seiner Autobiografie »Krieg ohne Schlacht«: »Sein tragisches Los war, dass er dort dann der einzige in seiner Brigade war, der für die DDR eintrat und für die Partei, und die Arbeiter meinten: So blöd darf man nicht sein, und haben ihn nach jeder Diskussion verprügelt.«

Ab Mitte der sechziger Jahre arbeitet er wieder am Theater, dabei ständig Gängelungen ertragend. In den Siebzigern geht er zurück an Brechts Berliner Ensemble und inszeniert dort einige Stücke zusammen mit Ei­nar Schleef. Im Jahr 1976 versucht er, eine freie Theatergruppe zu etablieren, die erste in der DDR, was abermals behindert wird. Danach geht er mit Dauervisum in den Westen, arbeitet als Regisseur in Stuttgart, Frankfurt, Bochum, schließlich in Düsseldorf, wo er Schauspieldirektor wird. In Stutt­gart wird er im Jahr 1981 ebenfalls raus­geschmissen. Er wehrt sich gegen einen ­Polizeieinsatz im Theater, nachdem es von linken Aktivisten besetzt worden war, die eine Solidaritätsadresse für Häftlinge der RAF abgeben wollen, die sich im Hungerstreik befanden.

Kurz vor der Wende befindet sich Tragelehn wieder in Ostberlin. Nach der Wende wird er Präsident des ostdeutschen P.E.N.-Zentrums. Nun kann er sein lang gehegtes Vorhaben verwirklichen, Shakespeare und seine Zeitgenossen, die so genannten Elisabethianer, John Ford, Thomas Middleton, Christopher Marlowe, Ben Johnson, John Webster, historisch-kritisch zu editieren und zeitgemäß zu übersetzen. »Alt / Englisches Theater / Neu« nennt er dieses Projekt, die Übersetzungen samt Materialien erscheinen im Stroemfeld-Verlag in Frankfurt am Main. Die Einbettung in einen Kontext, in dem Shakespeare als einer von vielen Dramatikern unter Elisabeth I. vorgestellt wird, ver­mittelt erst sein Talent für die Verarbeitung zeitgenössischer Anlässe zu einem »überzeit­lichen« Theaterstoff. Tragelehn historisiert Shakespeare in der Hinsicht, dass er den Ver­gleich mit seinen Kollegen und den Einblick in den Prozess ihrer Theaterarbeit ermöglicht. Er legt die Quellen und Bezüge ihrer Stücke offen, übersetzt mit materialistischer Haltung die Klassiker neu und nimmt sie dadurch ernst. Er zeigt, warum wir Shakes­peare immer noch als Zeitgenossen begreifen.

Wie passt nun die obige Interviewpassage zu dieser Biografie? Ist es nicht geradezu masochistisch, die DDR zu vertei­digen? Mag sein, aber Tragelehn sah in der DDR zumindest die Möglichkeit zur ver­nunft­­geleiteten Gestaltung der gesell­schaft­lichen Verhältnisse (die halbe Revo­lu­tion!); den, wie sein Kollege Peter Hacks meinte, sauren Apfel, während die BRD der faule ist.

Oder noch simpler: Ein Kommunist, nicht verkrümmt von Realpolitik, sprich: den Verrenkungen, die ihm die Partei abverlangt, nimmt natürlich auch in der DDR den Standpunkt des Arbeiters ein und nicht den des Bürokraten. Davon zeugen die Do­kumente, die das jüngst erschienene Lesebuch »Roter Stern in den Wolken. Aufsätze, Reden, Gedichte, Gespräche und ein Theaterstück« versammelt.

Vielleicht kommt diese Unabhängigkeit am schönsten in dem zwischen 1972 und 1991 entstandenen Gedicht-Zyklus »Haltungen L’s« zum Ausdruck. Mit L ist natürlich Lenin gemeint, der von Tragelehn keineswegs als großer Staatsgründer, genialer Philosoph und überlegener Stratege gezeichnet wird. Staatsgründer, Philosoph, Stratege – das alles war Lenin tatsächlich, aber eben nicht groß, genial und überlegen. Er war vor allem Revolutionär, noch dazu jemand, der meistens und entgegen dem Namen seiner Partei in der Minderheit war.

Mit dem von Brecht entlehnten Pathos der Nüch­ternheit schreibt Tragelehn in »Theorie und Praxis«, dem ersten Gedicht: »Neunzehnhundertvier­zehn im Herbst/Proletarier aller Länder entzweit/Schlachten einander/Studiert L in der Schweiz Hegels Logik./Er wird gefragt: Was soll das? L sagt:/Auf der Straße sieht jemand von weitem/Einen Mann am Bordstein hocken, mit beiden Händen/Sinnlos fuchtelnd. Er hält ihn für einen Verrückten./Näher herangekommen sieht er der Mann/Schleift am Bordstein sein Messer.«

Man muss betonen, dass Lenin aus purer Verzweiflung Hegel gelesen hat. Die ausgiebige Klassik-Rezeption, die linke Autoren in der DDR betrieben, um im Schutz von Goethe, Sophokles und Shakespeare Kritik üben zu können, drängt sich als Ähnlichkeit mit Lenins Hegel-Studium in aussichtsloser Lage auf.

Die Geschichte geht für L. nicht gut aus, Stalin ist schon im Haus. In Tragelehns Nachtrag zu dem Zyklus heißt es: »Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist: / L. ganz unten, sozusagen im Keller, sehr laut. / Einmal oben prügelt mit diesem Satz / Sein genialer Schüler die blöden Knechte / Bis sie blöd bleiben. Wer nicht blöd bleibt stirbt.«

Bei Tragelehn findet man genug Material für die These, dass die radikale Linke nicht nur eine Ange­legenheit des Westens war (und ist). Spricht das jetzt für die DDR? Die Frage ist zu pauschal. Das Material dokumentiert, was an autonomem Denken in der DDR möglich war.

BK Tragelehn: Roter Stern in den Wolken. Aufsätze, Reden, Gedichte, Gespräche und ein Theaterstück. Theater der Zeit, Berlin 2006. 295 S., 14 Euro