Wildgänse und Öko-Tomaten

In der deutsch-polnischen Grenzregion läuft ohne Wirtschaftssubventionen nur wenig. Das zeigte eine Radtour entlang der Oder. Mitgeradelt sind christoph villinger (text) und angela thaller-frank (fotos)

Mit unseren Fahrrädern stehen wir mitten auf der Stadtbrücke. Unter uns fließt die Oder gemächlich Richtung Ostsee. Im Westen ragn die Plattenbauten von Frankfurt in den Himmel, im Osten die bunten Häuser der Altstadt des polnischen Slubice, die frühere »Frank­furter Vorstadt«. Bis zum vergangenen Jahr markierte der Fluss die Ostgrenze der Europäischen Union, nun genügt ein kurzes Hochhalten des Personalausweises, um die Brücke passieren zu können. Entsprechend ändert sich der Blick, der Fluss begrenzt nicht mehr die beiden Städte, sondern fließt zwischen ihnen hindurch.

Mit uns auf der Brücke steht Michael Kurzwelly, Stadtarchitekt und stellvertretender Bürgermeister der Stadt »Slubfurt«. Begeistert spricht er von der Zukunft: In den zurzeit noch vom Bundesgrenzschutz genutzten Gebäuden auf der deutschen Seite der Brücke erkennt er schon das Bürgerzentrum von morgen. »Aus der Straßenbrücke soll dann ein wirklicher Ort der Begegnung werden«, träumt er weiter, »mit kleinen Läden und Cafés, und zwischendurch schlängelt sich die Straßenbahn.«

Mit seiner roten Krawatte und seinem schwarzen Anzug wirkt der 43jährige Künstler recht überzeugend. Erst am Ende seines Vortrags ist allen aus unserer Gruppe klar, dass es sich hier um eine Kunstaktion handelt. »Ich mache keine Politik, aber ich bin politisch«, kommentiert Kurzwelly seine Auftritte, »ich glaube an die europäische Stadt.« Was in 25 Jahren Realität sein kann, eine gemeinsame deutsch-polnische Stadt, ist derzeit noch weltfremde Spinnerei. Denn wo es nur geht, legen die »Frankbicer« den »Slubfurtern« Steine in den Weg. Eine beide Stadtteile verbindende Straßenbahn? Die Bürger von Frankfurt an der  Oder lehnten vor kurzem in einer Befragung dies mit über 80 Prozent der Stimmen ab.

Hier beginnt unsere fünftägige Radtour durch Polens »Wilden Westen« und Deutschlands »Ende der Welt«. Links und rechts der Oder wollen wir erkunden, »was war früher, was ist heute, und wie wird es morgen sein?« Entsteht durch den Beitritt Polens zur EU ein gemeinsamer Kulturraum? Wir – das sind vierzehn Teilnehmer einer Radtour der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung und die Leiter Annette und Mirko. Auf der polnischen Seite des Oderdeiches radeln wir nach Norden, vorbei an wilden Auwäldern bis nach Slonsk, einem kleinen Touristenort am Südrand des Nationalparks Warthemündung.

Der Tierfotograf Schimanski führt uns hinein ins Warthedelta. Auch er drückt seine Abneigung gegen die Bürokraten im fernen Warschau etwas verspielt aus, er lebt lieber in der »Vogelrepublik Slonsk«, mit »900 Bürgern aus 16 Ländern, einem eigenen Staatspräsidenten und Finanzminister«. Seit dem Jahr 2001 ist das international bedeutende Feuchtgebiet, etwa zehn Kilometer breit und 40 Kilometer tief, ein Nationalpark. »Jeden Herbst ist es für rund 200 000 Wildgänse auf ihrem Zug nach Süden der wichtigste Rastplatz in Mitteleuropa«, erzählt Schimanski, »im Winter leben hier rund 50 Seeadler«.

Aber wenn man urwüchsige Natur vermutet, wird man enttäuscht. Dieses Naturparadies wurde vor rund 250 Jahren künstlich von Menschen geschaffen, als Friedrich der Große begann, das Land umzustrukturieren. Aus den Sumpfwäldern entstand fruchtbares Land für Kolonisten und andererseits ein Schutz der umliegenden Dörfer vor Hochwasser. Überall verlaufen Wassergräben und stehen Schöpfwerke. Um das Gebiet busch- und baumfrei zu halten, weiden auf vielen Wiesen kleinere Rinder- und Pferdeherden. Aus diesen entwickeln sich im Laufe der Jahre wieder Wildpferde und inzwischen haben die Leithengste die Autos der Nationalparkwächter als ihre Feinde ausgemacht. »An jedem Jeep kann man die Spuren von Huftritten finden«, bemerkt dazu Schimanski.

Zwischen den Herden tummeln sich Gruppen von 40 Jungstörchen. Erst im dritten Lebensjahr werden sie geschlechtsreif und ziehen dann zu zweit in ein Nest. 40 000 Brutpaare leben in Polen und »weltweit betrachtet ist jeder vierte Weißstorch ein Pole«, wie Schimanski nicht ohne Stolz vermerkt.

Aber es gibt auch ein Paar Probleme mit der Tierwelt, etwa die vielen Wildschweine, die sofort begriffen haben, dass im Nationalpark nicht gejagt wird, und die seit Jahren hier auftauchenden Waschbären, die nur zu gerne Vogelnester plündern. Schimanski sieht aber nicht nur Probleme in der Tierwelt, auch bei den Menschen läuft nicht alles wunschgemäß. So hadert er mit der konservativen Stimmung seiner Landsleute, die, anstatt sich kulturell an Europa zu orien­tieren, hier auf dem Land mehrheitlich die ganz rechten Parteien wählten. Er kritisiert auch die Rolle der katholischen Kirche, aber sie sei eben der einzige soziale Treffpunkt auf den Dörfern. Aber er kenne ein Patentrezept: »Kirchensteuer einführen und am nächsten Tag wären es nicht mehr 95, sondern nur noch 25 Prozent Katholiken.«

Die nächste Station ist die Altstadt von Küstrin, ein auf einer Insel in der Oder gelegenes grün überwuchertes Ruinenfeld. Rund 18 000 Menschen lebten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in der Altstadt, dann verwandelte sie sich wegen des deutschen Abwehrkampfes gegen die Rote Armee in ein Trümmerfeld. Nach 50 Jahren im deutsch-polnischen Niemandsland gab es erste Pläne zum Wiederaufbau, doch bisher ist nichts geschehen, und so bleibt die Insel vorläufig eine natürliche Stätte des Gedenkens an den Krieg. Auf der deutschen Uferseite findet inzwischen jedes Jahr das von 100 000 polnischen Jugendlichen besuchte Open-Air-Konzert »Haltestelle Woodstock« statt. Auf der polnischen Uferseite radeln wir an einigen riesigen und neuen Fabrikhallen vorbei, Stein gewordene EU-Fördergelder für die Euroregion Oder.

Doch nach wenigen Kilometern sind wir wieder mitten im ländlichen Polen. An einem alten, verfallenen Kieswerk ist der Zugang zum Fluss möglich, und wir können den Blick über die gemütlich dahinfließende Oder genießen. Sonst versperren oft Seitenarme, Sumpfwiesen und kleine Auwälder den Zugang zum Fluss. Durch riesige Kiefernwälder geht es nun ins Landesinnere. Selbst am Nachmittag strömen in einem kleinen Bauerndorf Mädchen in weißen Kleidern in die Kirche. Die Nacht wollen wir auf dem Pferdegestüt Bielin verbringen, zwar ist unsere Anmeldung verschütt gegangen, aber das sei »alles kein Problem«, meint die Verwalterin. Erst ab den Sommerferien sei alles ausgebucht.

So verbringen wir hier einen wunderschönen Abend auf der Terrasse des alten Herrenhauses mit Blick in einen kleinen Park. Dabei erfahren wir etwas über die Besitzverhältnisse: Eine polnische Verwaltung betreut die 120 Rassepferde, die deutsche Eigentümerin wohnt in Hannover. Etwas, das viele Polen hier überall wahrnehmen und mit Argwohn betrachten: polnische Verwalter, aber in Wirklichkeit gehöre alles schon »den Deutschen«. Diese Kritik kommt vor allem aus dem rechtskonservativen und katholischen Milieu.

Einer der wenigen, der eine Kritik an den Verhältnissen aus einem linksalternativen Blickwinkel versucht, ist Jens Keller. Seit acht Jahren lebt der ehemalige Berliner Journalist mit seiner Frau und ihren beiden Kindern auf der polnischen Seite der Oder. Wir treffen ihn mitten im Wald auf einer Wiese, liegen unter einem Baum im Gras und hören ihm zu. Im Hintergrund rauscht ein kleiner Fluss, der nach wenigen Kilometern in die Oder münden wird. Seiner Meinung nach werde die Angst vor Rück­übertragungen bewusst geschürt, damit »die Leute die Klappe halten«. Es fehle ein »bürgerliches Selbstbewusstsein«. Viele Menschen hätten Angst, dass alles wieder verlorengeht.

Seit Jahren versucht er mit seinem Verein »Oip Stary Zagon« auf der Ostseite der Oder eine kleine alternative Infrastruktur aufzubauen und einen so genannten sanften Tourismus einzuführen. Aber er weiß nicht, ob er langfristig davon wird leben können. Ohne eine gewisse Grundsicherung werfen die kleinen alternativen Landwirtschaftsbetriebe zu wenig ab. Langfristig können in der EU-Agrarwirtschaft nur die großen Höfe überleben, Experten rechnen damit, dass rund neun Zehntel der polnischen Bauern aufgeben werden. »Wenn ich anderswo einen Job finden würde«, sagt er, »würde auch ich weggehen.«

Geblieben ist dafür entgegen den Voraussagen aller Ökonomen der Bazar am Grenzübergang Hohenwutzen. Hier, 58 Kilometer von der Stadtgrenze Berlins entfernt, kann man auf einem alten Industriegelände gleich hinterm Grenzübergang weiterhin billig tanken, sich für wenig Geld die Haare schneiden lassen, steuerfreie Zigaretten kaufen, Imitationen von Markenjeans und Raub-DVDs erwerben. Für Uwe Rada, den Autoren eines Bildbandes über die Oderregion von der Quelle bis zur Mündung, sind »diese Märkte das Vergnügen der kleinen Leute«. Auch deshalb habe der Beitritt Polens zur EU nicht zu ihrem Zusammenbruch geführt. Vielmehr machen die Bazare weiterhin rund zehn Prozent des polnischen Bruttoinlandprodukts an der Westgrenze aus. Hier knüpfe man Kontakte, und wo der Westberliner nur die kleine Bude mit einer Jeans sehe, verkaufe die Inhaberin beim Teetrinken doch 500 Stück dieser Hose »unterm Ladentisch« in den Westen. Natürlich sei dieser Prozess einer ökonomischen Annäherung auch mit Rück­schlägen verbunden. »Immerhin hat sich das Lohngefälle an der Grenze schon von eins zu neun auf eins zu drei reduziert«, meint Rada.

Nun radeln wir auf der deutschen Seite weiter auf dem »Oder-Neisse-Radweg«, dem drittbeliebtesten Fernradweg in Deutschland. Selbst eine vom Bodensee stammende Mitreisende ist begeistert von der Weite des Blicks in die Landschaft. Durch die Hügel der Choriner Endmoräne, nur unterbrochen von einem kurzen Bad im Parsteiner See, erreichen wir am Abend das »Ökodorf« Brodowin. In diesem Dorf mit heute rund 400 Einwohnern haben ein paar ökologisch interessierte Bewohner gleich nach der Wende die örtliche LPG übernommen und in sieben langen Jahren auf einen Demeterbetrieb mit rund 1 250 Hektar umgestellt. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Betriebs­größe eines Bauernhofs im Westen beträgt rund 50 Hektar.

Am nächsten Morgen führt uns Peter ­Krentz, Geschäftsführer der Ökodorf Brodowin GmbH, durch den Betrieb. Mit dem Demeter-Prinzip hat der Mittvierziger einen sehr pragmatischen Umgang, und dass er als ehemaliger stellvertretender Betriebsleiter der LPG in der DDR auch mal den einen oder anderen »Kapital«-Kurs besucht hat, ist nicht zu überhören. Er beschreibt, warum die Aufzucht eines Rinds in Argentinien 280 Dollar, hier aber 800 Dollar kostet, und was es für die Zukunft bedeutet, wenn die in Brodowin ausgebildeten Ukrainer die Schwarz­erde­böden ihrer ehemaligen Kolchosen mit manchmal 50 000 Hektar Betriebsgröße auf Bio-Landwirtschaft umstellen.

»Auch bei der Landwirtschaft gibt es keinen ›Markt‹ im traditionellen Sinne mehr, sondern nur noch Weltmarkt, losgelöst von Raum und Zeit«, sagt ­Krentz. »Dagegen setzen wir mit unserer Regionalmarke ›Ökodorf Brodowin‹ auf den lokalen Markt des nahen Berlin.« Und auf Leute, denen es egal ist, ob der Liter Milch 49 oder 90 Cent kostet. Damit sind sie seit nun 15 Jahren einer der wenigen ökonomisch erfolgreichen neuen Betriebe im Land Brandenburg. Gut 50 Menschen haben hier ein Auskommen gefunden, über 600 Rinder sind glücklich und in riesigen Gewächshäusern wachsen Tomaten und Gurken. Gerade verlässt der 30-Tonnen-Kühllaster eines Bio-Großhändlers den Hof, als wir den Kuhstall betreten.

Als Indikator für das gesunde Raumklima gelten die über 180 Schwalbennester. ­Krentz wirft weiter mit ökonomischen Daten um sich: Pro Arbeitsplatz in der Landwirtschaft bedarf es inzwischen 300 000 Euro, in der Industrie 180 000 Euro. Die 57 Frührentner im Dorf seien »die reale Wertschöpfungskette hier auf dem Land«. Arbeit gebe es ohne Ende, nur bezahlen könne man sie nicht. Selbst das Kapital für das »Ökodorf Brodowin« stamme zu über 90 Prozent von der aufgeklärten preußischen Adelsfamilie von Malzahn.

Viel Energie steckt man im Augenblick in die Versuche, eigene Rinderherden zu züch­ten, mit jeweils 80 Tieren. Krentz und seine Mitarbeiter wollen weg von der künstlichen Befruchtung und erzählen nicht ohne Spott von Dänemark, wo letztlich alle Kühe von elf Zuchtbullen abstammten und es inzwischen riesige Probleme mit Inzucht und Erbkrankheiten gebe. Selbst in eine Kuh müsse man 3 000 Euro investieren, bevor sie den ersten Liter Milch gebe, betont ­Krentz.

Nach einem Rundgang durch die Gewächs­häuser und einer Besichtigung der voll computerisierten Packanlagen für die 1 800 Gemüse-Kisten, die jede Woche nach Berlin gehen, decken wir uns im Hofladen für ein Picknick am See mit den örtlichen Köstlichkeiten ein: Kräuterkäse, Pfeffersalami, kleine Mozarella-Kügelchen.

Was in Brodowin funktioniert, ist rund 20 Kilometer weiter nördlich in Stolzenhagen noch nicht möglich. Hier leben 19 Menschen auf einem riesigen ehemaligen Gutshof. Weit verstreut liegen die Ställe und Scheunen in der Landschaft verteilt, viele Gebäude stehen leer. »Der Gutshof gehört unserer Genossenschaft«, erzählt Uli Kaiser, »und wer will, kann sein Nutzungskonzept für ein Gebäude vorstellen, zahlt eine Pacht und kann loslegen«. Doch die Nachfrage ist gering, »du brauchst Zeit, Geld und Wissen«, meint Kaiser, »die ökonomische Basis ist Hartz IV«.

Inzwischen haben sie immerhin ein kleines Gästehaus ausgebaut, »sehr basic«, aber immerhin. Eine Fototapete simuliert ein großes Bad, in Wirklichkeit gibt es Kompostklos und Solar­dusche. Viele wohnen in irgendwelchen Nischen des riesigen Geländes, meist in Bauwägen, zu erschlagend sind die Stallgebäude. »Zu DDR-Zeiten waren es 60 Leute, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs arbeiteten hier rund 100 Zwangsarbeiter«, erzählt Kaiser. In einem kleinen Garten werden wir mit Kaffee und Kuchen bewirtet. Anschließend radeln wir weiter, runter zur Oder, vorbei am ebenfalls leer stehenden ehemaligen Herrenhaus. Wer es kaufen will, braucht nur die auf einem etwas vergilbten Schild angegebene Handynummer zu wählen.

Unten am Fluss geht es weiter nach Norden, nach Stolpe. Dort erwartet uns ein kleines Hotel, aber auch dieses gibt es nur, weil es subventioniert wird. Es handelt sich um einen Ausbildungsbetrieb für Jugendliche, geöffnet von Anfang Juni bis Ende September.

Am nächsten Morgen sitzen wir am Schifffahrtskanal an der Oder zusammen im Kreis und denken an die letzten Tage. Was funktioniert ökonomisch ohne eine gewisse Grundsicherung? Offensichtlich nur das uralte Modell des ostelbischen Großgrundbesitzes: ein potenter adliger Geldgeber und ein pfiffiger Verwalter, eben die Modelle Brodowin und Bielin. Sicher wird sich Szczecin wieder zum Hochseehafen Berlins entwickeln, und durch den Anschluss an eine russische Ölpipeline und das Petrochemische Kombinat wird es in Schwedt immer eine gewisse Industrie geben. Aber den größten Teil der Landschaft zwischen Frankfurt an der  Oder und Schwedt werden wohl die Fischadler und Biber und die zur »Fleischveredelung« auf den Weiden sich selbst überlassenen Rinder unter sich aufteilen.