Das Gesetz des Schweigens

Bislang wurde die Gewalt gegen Kinder unter den Maoris in Neuseeland als eine Folge postkolonialer Traumatisierung abgetan. Nach einem Aufsehen erregenden Doppelmord beginnt sich das zu ändern. von anke richter, auckland

Sie hatten als Frühchen überlebt, aber gegen die eigene Familie hatten Chris und Cru Kahui keine Chance. Als die zwölf Wochen alten Zwillinge ins Starship Hospital von Auckland gebracht wurden, litten sie an schweren Gehirnverletzungen. Die kleinen Körper waren von Prellungen übersät und der Oberschenkel von Chris gebrochen. Jemand hatte seinen Schädel mit einem schweren Gegenstand malträtiert. Beide Babys starben fünf Tage später.

Damit erhöhte sich die traurige Rekordzahl der Kinder, die in Neuseeland gewaltsam zu Tode kommen. Die Zahlen sind erschreckend. Der Staat mit vier Millionen Einwohnern, einem idyllischem Panorama und einer hohen Lebensqualität nimmt unter den OECD-Staaten den dritthöchsten Platz in der Statistik der Kindesmorde ein. In der Hälfte der Fälle sind die Opfer wie Chris und Cru, Kinder von Ureinwohnern. Allein im vergangenen Jahr wurden 1 010 Maori-Kinder schwer misshandelt.

Während die Zwillinge im Koma lagen, sprachen sich die halbwüchsigen Eltern von Chris und Cru mit ihrem Umfeld ab. Niemand aus der Großfamilie wollte gegenüber der Polizei aussagen, wer die Tat begangen haben könnte. Um das Gesetz des Schweigens namens wahangu – die Maori-Version der Omerta – zu brechen, setzten die Ermittler lieber auf Einfühlungsvermögen statt auf staatliche Gewalt. Der Familie aus Mangere, einem verarmten Vorort von Auckland, wurde zugestanden, zunächst eine traditionelle mehrtägige Beerdigung zu feiern, wenn sie anschließend mit den Polizisten kooperiere.

Doch als der Kahui-Clan sein Versprechen brach und auch nach einer Woche noch den oder die Mörder in seinen eigenen Reihen deckte, wurde es nicht nur den Neuseeländern europäischer Abstammung, sondern auch vielen der rund 500 000 Maoris zu bunt. Bisher hatten die Maori-Repräsentanten stets davor gewarnt, den Vorwurf der Kindesmisshandlung als eine Keule gegen ihr Volk zu verwenden. »Doch wer außer uns soll dafür die Verantwortung übernehmen?«, fragte Merepeka Raukawa-Tait, Politikerin und frühere Frauenhaus-Beauftragte. »Das Problem muss bei uns aufhören.«

Pita Sharples, Mitbegründer der Maori-Partei, hielt mit 800 Menschen eine Mahnwache gegen häusliche Gewalt ab und forderte die Schuldigen der Kahui-Familie auf, sich zu stellen, damit »diese Kinder in Frieden ruhen können und der Rest Neuseelands Frieden findet«. Kriminelle Gangs wie der gefürchtete Mongrel Mob drohten Konsequenzen gegenüber der Familie der Zwillinge an, weil diese Schande über alle Maori brächte.

Diese Töne sind im Land der Schafe, Hobbits und Whale Rider neu. Bisher blieb es Weißen vom rechten Rand überlassen, auf die Verrohung und Brutalität in vielen zerrütteten Maori-Familien zu verweisen. Für Maori-Aktivisten wie Tariana Turia war an der häuslichen Gewalt bisher jeder außer den Tätern schuld: »Postkolonialistische Traumatisierung« habe die Zahl der getöteten Kinder so rapide anwachsen lassen, denn erst seit dem Eintreffen der Engländer würden die ursprünglichen Bewohner Aotearoas, so der Maori-Name für Neuseeland, mit ihrem Nachwuchs anders als früher umgehen.

Auch die Sängerin Anika Moa sieht die Wurzel des Übels in der zerstörten Identität. Auf ihrer neuesten CD singt die 24jährige »Broken Man«, ein Lied über die Gewalt in ihrer Familie. »Mein Vater, sein Vater und sein Großvater waren alle ziemlich fertig. Sie wuchsen in einer Zeit auf, als es als schlecht galt, Maori zu sein und seine eigene Sprache zu sprechen.«

Moa bricht mit einem Tabu. Trotz Wiederbelebung und Gleichstellung der Maori-Kultur wurde das Problem der Kindesmisshandlung in der eigenen Bevölkerungsgruppe lange ignoriert. Doch mit jedem neuen Fall wuchs die Empörung. Angefangen mit dem vierjährigen James Whakaruru, der 1999 über zwei Tage lang vom Lebensgefährten seiner Mutter gequält und am Ende mit einer Zaunlatte in der Toilette erschlagen wurde. Es folgte Liotta Leuta, fünf Jahre alt, der 165 Mal mit einem Kabel verdroschen wurde, bevor er starb. Oder der 17 Monate alte Pirimai Simmons, dessen Schädel zerbarst, nachdem sein Vater ihn durchs Zimmer geschleudert hatte.

Besonders große Aufmerksamkeit in der neuseeländischen Öffentlichkeit erregte der Tod Lillybings. Das 23 Monate alte Maori-Mädchen, das in der Obhut zweier Tanten war, hatte mehr als 90 Prellungen und Hautabschürfungen erlitten, als es sieben Stunden nach seinem Tod in die Klinik gebracht wurde. Ihr Gesicht war verbrannt, ihre Finger bis aufs Blut abgeschnürt, und ihre Genitalien waren so schwer verletzt, dass sie daran gestorben wäre, wenn nicht ihr Gehirn auf Grund heftigen Schüttelns ausgesetzt hätte. Ihre Tortur hatte drei Tage lang gedauert. Eine der Tanten wurde wegen Totschlags und unterlassener Hilfeleistung zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Doch wer Lillybing sexuell gefoltert und gequält hat, ist bis heute ungeklärt. Ebenso wie im aktuellen Fall der Kahui-Zwillinge hat die Familie eisern geschwiegen.

Premierministerin Helen Clark, bisher immer »politisch korrekt« im Umgang mit der Minderheit der Maori, ist diesmal »absolut schockiert«, dass Kindsmörder sich hinter einem Schleier kultureller Unangreifbarkeit verstecken können. Sie hat eine Untersuchungskommission einberufen, die noch in diesem Monat Lösungen für das Dauerproblem Kindesmissbrauch auf den Tisch legen soll. »Es ist wie die Wiederholung von ›Die letzte Kriegerin‹«, stellte die Politikerin der Labour-Partei resigniert fest. Der preisgekrönte Film hatte erstmals das soziale Elend und die Gewalt der urbanisierten Maori beleuchtet. Für die jüngsten unter ihnen ist es Zeit, dass der Krieg aufhört.