Die Pfadfinder übernehmen

Als wäre sie jemals etwas anderes gewesen, diskutiert die CDU darüber, ob sie eine kapitalistische Partei ist. von axel klingenberg

Es ist eine Lüge der CDU, dass niedrige Steuern zu mehr Investitionen führen. So stieg beispielsweise in Nord­rhein-Westfalen die Zahl der Arbeitslosen seit dem Jahr 1998 von 856 000 über eine Million, obwohl der Eingangs- und Spitzensteuersatz im gleichen Zeitraum kontinuierlich gesenkt wurde. Überraschenderweise war es ausgerechnet Jürgen Rüttgers, der Ministerpräsident des gescholtenen Bundeslandes, der die Tatsache aussprach und von der »Lebenslüge der CDU« redete. Einer muss­te es ja mal sagen. Damit nicht genug, verstieg er sich sogar noch zu der absurden Behauptung, die CDU sei keine kapitalistische Partei und dürfe auch keine werden.

Was ist der Grund für diese merkwürdige und völlig unvermittelt vorgetragene Selbstkritik? Liegt es am Sommerloch oder an den schlechten Umfrage­ergebnissen der Großen Koalition? Nach dem »ARD-Deutschlandtrend« sind nur noch 22 Prozent der Bundesbürger zufrieden mit der Regierung. Oder will sich Rüttgers vor dem 60. Geburtstag seines Bundeslandes bei den Ruhrkumpels anbiedern? Wahrscheinlich ist es von allem ein bisschen, und schließlich steht ja am 22. August auch noch der christdemokratische Grundsatzkongress an. So wurde plötzlich aus einer simplen Feststellung eine »Programmdebatte«.

Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann forderte: »Wir müssen wieder mehr Partei der Arbeitnehmer werden.« Und Ge­rald Weiss, der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe im Bundestag, ergänzte: »Manchmal wirkte es in der Vergangenheit so, als sei die soziale Gerechtigkeit in den Hintergrund gerückt. Sie muss aber gleichberechtigt neben den Werten Wettbewerb und Markt stehen.« Das durfte natürlich nicht ohne Widerspruch bleiben. So stellte der Haushaltspolitiker Ole Schröder klar, dass zwar im Grundsatz nicht falsch sei, was Rüttgers anspreche, aber: »Es muss die gesamte Abgabenlast betrachtet werden – unsere hauptsächlichen Probleme kommen von den hohen Lohnnebenkosten.«

Sogar Norbert Blüm, der sich nach seiner politischen Karriere vor allem seiner geliebten Volksmusik widmet und Mitglied des Rateteams der Fernsehsendung »Was bin ich?« wurde, fühlte sich berufen, seine Meinung kundzutun. Er warnte die CDU vor einem »Rückfall in den Neoliberalismus« – als hätte es jemals eine Abkehr davon gegeben. Der Grundsatz, dass Stärkere für Schwächere einzustehen hätten, werde noch gelten, »wenn der Mensch den Mond besiedelt«, sagte er weiter. Deutlich merkt man hier seine Sozia­lisation als Mitglied der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg, der übrigens auch Jürgen Rüttgers angehörte. Also alles eine Verschwörung ehemaliger katholischer Jugendbewegter?

Wohl kaum: Im Gegensatz zur FDP legt die CDU schließlich Wert darauf, eine Volkspartei zu sein, oder in den Worten Heiner Geißlers: »Mit einem wirtschaftsliberalen Kurs landet man nur bei 30 Pro­zent.« So viel haben die Liberalen sowieso noch nie gehabt, schließlich ist die FDP eine Klientel- und keine Volkspartei, und so konnte sich Guido Westerwelle die Bemerkung nicht verkneifen, die Union müsse »sich endlich zwischen Herz-Jesu-Sozialismus und sozialer Marktwirtschaft entscheiden«.

Wer nun fürchtet, dass der Kommunismus vor der Tür steht, darf beruhigt sein. Der Vorschlag des Generalsekretärs der CDU, Ronald Pofalla, dass Kinder ihre arbeitslosen Eltern finanziell unterstützen sollten, spricht eine deutlichere Sprache als alle populistische Rhetorik.