Die relative Gefahr des eigenen Lands

Der neue, bunte Nationalismus wirkt innenpolitisch zivilisierend und außenpolitisch barbarisierend. von hannes gießler

Was, wenn plötzlich jene, die von Antisemitismus und Rassismus verfolgt sind, zu deutschen Patrioten werden dürfen oder gemacht werden? Gerald Asamoah konnte seinen Spruch aufsagen bei der Kampagne »Du bist Deutschland«, und Paul Spiegel, der kürzlich verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden, wurde post mortem vom Bundespräsidenten zum »deutschen Patrioten« erklärt.

War das Weltmeisterschaftsmotto »Die Welt zu Gast bei Freunden« geheuchelt? Ich glaube nicht. Die Protagonisten des neuen, bunten Nationalismus sind weltoffen, multikulti und nett. Sie sind zivilisierte Kosmopoliten, die ihrem Land ein ernst gemeintes buntes Flair geben wollen und sich bewusst oder unbewusst eher am amerikanischen, holländischen und französischen Patriotismus orientieren.

Sicher: Gerade im deutschen Nationalismus waren Antisemitismus und Rassismus enthalten. Muss das deswegen aber auf immer und ewig so sein? Vielleicht hat die deutsche Nation bei den Zeitgemäßesten ihrer Bürger, etwa denen aus Berlin und Frankfurt/Main, annähernd die Bedeutung, die ein Naziverein namens »Schutzbund Deutschland« herausstellt: »Sie, die (…) das deutsche Volk, also jeden einzelnen von uns, als gewachsene Gemeinschaft ausradieren wollen, sprechen auf einmal von Deutschland. Doch meinen sie damit (…) nicht jenes Land in seinen nach wie vor völkerrechtlich gültigen Grenzen. Sie meinen, wenn sie von Bevölkerung sprechen, auch nicht das deutsche Volk. (…) Sie tauschen uns aus und an unsere Stelle tritt eine biologisch, kulturell und traditionell entwurzelte Menschenmasse von (…) Einzelmenschen, die (…) sich von ›Fastfood‹ ernähren und deren einzige Träume die Stillung des von der Werbung gesteuerten Konsumrausches sind. Familie, Sippe und Volk haben in dieser Welt keinen Platz (…) Sie reden von Deutschland und meinen damit doch nur diesen von Besatzern installierten und kontrollierten Vasallenstaat BRD. (…) BRD bedeutet: Diktatur der Toleranz und Diktatur des Kapitals. (...) Sie reden von Deutschland und meinen Berlin und Frankfurt/Main. Sie reden von Deutschland und meinen Gerald Asamoah und Xavier Naidoo.«

Erfassen diese Nazis nicht die Wahrheit, wenn sie darauf insistieren, dass der bunte Nationalismus die völkische Idee ausschließt? Nun könnte eingewandt werden, dass der bunte Nationalismus in erster Linie für die Deutschen bedeutet, sich der Vergangenheit zu entledigen. Dafür spricht die Obsession, mit der er seine Normalität beschwört und die Vergangenheit ins Gespräch bringt, um mitzuteilen, dass man mit ihr nichts mehr zu schaffen habe und nicht mehr »damit« belästigt werden wolle.

Diese Abwendung von der Vergangenheit ist aber nicht nur obsessiv, sondern auch ernsthaft. Man hat gelernt: Es gibt keine Rassen; Herkunft, Hautfarbe und Religion spielen nicht die entscheidende Rolle fürs Deutschsein; jüdische Gemeindezentren und Moscheen zündet man nicht an, sondern fördert man; die eigene Nation besteht innerhalb eines Staatenbundes, in dem alles friedlich geregelt werden kann. Kein rassisch reines Deutschland, sondern eine gewisse Bevölkerungsvielfalt ist nun das Ideal. Bekundet wird dieser Lernprozess allerorten durch Mahnmale, Museen und Gedenkveranstaltungen.

Als ich mir vor einem Jahr in Leipzig ein Confederation-Cup-Fußballspiel angesehen habe, bekam ich auf dem Nachhauseweg am Ausgang des Stadions Angst um einen Mann mit schwarzer Hautfarbe, der nicht nur mir, sondern auch Hunderten anderen Fans entgegenkam. Die Angst legte sich schnell. Eine mit schwarz-rot-goldenen Fanartikeln eingedeckte Männerclique in der Fan-Meute ergriff die Ini­tiative und fing hinsichtlich des Mannes mit dunkler Hautfarbe an, rhythmisch zu skandieren: »Gerald Asamoah – O-ohoho, Gerald Asamoah – O-ohoho«. Die anderen Fans stimmten mit ein und waren erpicht darauf, mit dem Entgegenkommenden Shakehands zu machen. Vor zehn Jahren wären »Uhuhuh«-Rufe ertönt, und der Mann wäre vielleicht sogar mit Schlägen traktiert worden.

Dass zwischen damals und heute kein tiefgreifender, sondern ein oberflächlicher Wandel stattgefunden hat, widerlegt nicht, dass er – gerade im Osten – ein gutes Stück Zivilisation bedeutet. Er wurde auch durch den so genannten Aufstand der Anständigen im Jahr 2000, die Kampagne »Du bist Deutschland« und die Inszenierung der Fußballweltmeisterschaft forciert.

Da der bunte, neue Nationalismus ein Einverständnis mit dem Bestehenden bleibt und wie alle Massenbewegungen infantil ist, wird kein vernünftiger Mensch sich eine Deutschland-Flagge aus dem Fenster hängen. Wer aber den Unterschied zwischen völkischen Pogromen und Autokorsos nicht wahrhaben will, wer den Unterschied zwischen völkischem und buntem Nationalismus nicht erkennen oder nicht benennen will, wer den bunten auf den völkischen Nationalismus zurückführen will und felsenfest behauptet, dieser würde letztlich wieder zu jenem hinführen, der verkennt und relativiert den völkischen Nationalismus, der seit Anfang der neunziger Jahre in Deutschland über 100 Menschen das Leben gekostet hat.

Der neue, bunte Nationalismus wirkt – das ist das Paradoxe – innenpolitisch zivilisierend und außenpolitisch barbarisierend wegen ein und derselben Botschaft: one World – one Future. Einerseits steht er in Gegnerschaft zu Antisemitismus und Rassismus und möchte und kann Deutschland in genau diesem Sinne zivilisieren. Andererseits ist das Bedingung seiner Kompatibilität mit der globalen Heilsbewegung gegen die »chauvinistischen, nationalistischen Gebilde« USA und Israel.

Während Antisemitismus und Rassismus ihre Zutaten aus biologistischen und völkischen Vorstellungswelten bezogen haben und provinziell waren, beziehen sich Antizionismus und Antiamerikanismus positiv auf die Weltgemeinschaft als einer Art Volksgemeinschaft im globalen Maßstab. In deren vorgestellten Zusammenhang ist die Nation nicht zwingend notwendig, kann aber als eine Art Gau figurieren. Es ist nicht so, dass der bunte Nationalismus zwangsläufig mit Antiamerikanismus und Antizionismus einhergehen muss. Wo diese Melange jedoch zustande kommt, erweist sie sich als konsistente und attraktive Ideologie, die die vormals im Antisemitismus aufgehobene Verteufelung des Abstrakten auf einer »höheren« Ebene aufhebt, für welches nun die vermeintlich imperialistischen und egoistischen Mächte USA und Israel herhalten müssen, während das Bedürfnis nach Konkretheit nunmehr in der Weltgemeinschaft oder der Völkergemeinschaft oder der antinationalen Multitude sein Objekt hat.

Selbst aber diese Weltgemeinschaft, die sich gegen die USA und Israel abstößt und zu der der neue, bunte Nationalismus hintreiben kann, ist verhältnismäßig harmlos. Die Unzuverlässigkeit einer so flachen wie bewegten Kritik des deutschen Nationalismus wird besonders deutlich, wenn mittels ihrer der Islamismus als akute Hauptgefahr verkannt wird. Beispielsweise beschwert sich eine antideutsche Gruppe über andere Antideutsche: »Sie setzen die reaktionären und antisemitischen Regime in der so genannten islamischen Welt auf eine Ebene mit den Nazis. Dies ist nicht nur eine ernsthafte Verharmlosung der Nazi-Zeit und des Holocausts, sondern auch ein Missbrauch des (radikalisierten) Kategorischen Imperativs von Karl Liebknecht, nach dem der Hauptfeind das ›eigene Land‹ ist.«

Antideutsche Politik beteiligt sich durch derlei negative Identifikation mit Deutschland, mit solcherart Standortlogik, an der Verharmlosung des Islamismus. Man will nicht wahrhaben, dass dieser – wenn auch nicht im Sinne eines industriellen Massenmords, so doch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – die Judenvernichtung fortzusetzen droht. Und nicht nur das. Auch Homosexuellen, Liberalen, Anarchisten und emanzipierten Frauen droht heute hauptsächlich Gefahr durch Islamisten, kaum aber durch eine Neuauflage des Dritten Reichs oder gar durch die feuchtfröhlichen bunten Nationalisten.