Es war nicht alles ernst

Does Humor Belong To Prog? Was so besonders an der Musik aus der Bischofstadt Canterbury ist, erläutert der vierte und letzte Teil unserer Serie über den Rock der siebziger Jahre. von uli krug
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Zappaesk oder Canterbury-Style – das sind die beiden Attribute, die verwendet werden, wenn es in der progressiven Musik etwas zu lachen gibt, sei es über musikalische oder text­liche Parodien, sei es über das, was Adorno »Lust an der Dissonanz« nannte. Der Bruch mit den Konventionen der Populärmusik bot eigentlich beste Möglichkeiten dafür. »Schließlich reflektieren die eigenwilligen harmonischen Formen und die verwickelten Metren in der Counterculture positiv besetzte Eigenschaften wie Überraschungsfreudigkeit und Widerspruchsgeist«, folgert der Musikwissenschaftler Edward Macan.

Aber eben nur eigentlich: Gerade weil Prog aus dem Vorstellungshorizont der Nach-Hippie-Subkultur schöpfte, nahm er häufig sich und die Welt bitterernst. Die Idee von Bewusstseinsveränderung, ja »spiritual revolution« durch Musik, war eng verknüpft mit einer Art Sci-Fi-Neoreligiösität (literarisch versetzt mit Carlos Castanedas Mushroom-Weisheiten, Tolkiens Mittelerde oder T.S. Eliots Technik-Degout), die zum anschwellenden Esoterik-Boom der letzten Jahrzehnte einiges beigetragen hat. Im Progressive Rock stand derlei noch in eigentümlicher Spannung zur avancierten Instrumenten- und Spieltechnik – als diese Ende der siebziger Jahre Plattenfirmen und Publikum längst schon »zu abstrakt« geworden war, schlug die zuvor subkulturelle Exzentrik endgültig in breitenwirksame Wahnideen um.

Frank Zappa hatte solche Tendenzen schon früh verspottet. »We’re Only In It For The Money« (1968) war nicht nur vom Cover her eine großartige Parodie auf »Sergeant Pepper«, sondern auch textlich. »Who Needs The Peace Corps?« fragten damals nicht viele. Auch die Musik selbst war von absurd-ironischen Elementen geprägt. Immer wieder durchbrechen nach serieller Vorgabe komponierte, stark perkussive Läufe die ohnehin schrägen Songs. Stilprägend dafür wurde »Brown Shoes Don’t Make It« von 1967. Die gleiche Technik verwendeten auch augenzwinkernde Prog-Combos wie Stackridge, Wigwam, Odin und die Mannheimer Musik-Kommune Nine Days Wonder.

Der Humor der Bands des so genannten Canterbury-Style unterschied sie stark von den Ver­­tretern des »symphonischen Prog« wie Yes, Genesis und E, L & P. Die Sci-Fi-Saga »Radio Gnome Invisible« beispielsweise, die Gong in einer sehr unterhaltsamen Trilogie 1973/74 vertonten, widmet sich den seltsamen Abenteuern, die dem Pro­tagonisten »Zero The Hero« auf dem Planeten Gong widerfahren, der von grünen Kiffer-Kobolden in fliegenden Teekannen bewohnt wird. Die Suite »Tenemos Roads« von National Health wiederum zählt mit trockener Komik die Essentials eines länglichen Sci-Fi-Epos in gerade mal 22 Zeilen auf. Auch die Musik ist sehr eigen. Der zwischen Prog und Jazz-Rock oszillierende »Canterbury-Style« vermied nicht nur den spätromantischen Kitsch, dem die symphonische Richtung nicht immer widerstehen konnte, sondern auch den primitiven Funk, auf den Herbie Hancock Mitte der Siebziger die Jazz-Rock-Fusion herunterzuwirtschaften versuchte. Auch Miles Davis’ Werke nahmen in den Jahren nach dem Fusion-Pionier-Album »Bitches Brew« (1969) dieselbe stetige Abwärtsentwicklung. Fairerweise sei angemerkt, dass andere »Bitches Brew«-Mitwirkende wie Chick Corea (mit Return To Forever) bzw. Wayne Shorter und Joe Zawinul (mit Weather Report) in den Siebzigern passable Fusion-Platten veröffentlichten, während John McLaughlin (mit dem Mahavishnu Orches­tra) sogar zwei sehr gute Alben gelangen voll brillanter Soli in halsbrecherischem Tempo.

Wieso aber heißt das Mittelding zwischen Symphonik-Prog und Jazz-Fusion nach der Stadt, in der das Oberhaupt der anglikanischen Kirche residiert, also: Canter­bury? Jede Antwort darauf beginnt mit der Studenten-Band The Wilde Flowers, die zwischen 1963 und 1967 in der altehrwürdigen Universitätsstadt in der Grafschaft Kent existierte: »Obwohl die Band nie ein Album veröffentlichte, ist ihr Einfluss kaum zu überschätzen. Sie war der Ursprung des so genannten Canterbury-Sounds; die späteren Soft Machine-Gründer Robert Wyatt, Kevin Ayers und Hugh Hopper spielten bei den Flowers ebenso wie Pye Hastings, David Sinclair, Richard Sinclair und Richard Coughlan, die Caravan prägten. Die Flowers besaßen einen viel intellektuelleren und kunst-orientierteren Hintergrund als damals üblich. Ihr selbst geschriebenes Material verwirrte die Hörer: Es strotzte nur so vor befremdlichen jazzigen Wendungen, witzig-abstrusen Texten, abenteuerlichen Akkordwechseln und Taktarten.« Damit hat Rock-Kritiker Richie Unterberger wesentliche Grundzüge des Canterbury-Sounds genannt, auch wenn Hugh Hopper selber meint, dass dieses »künstliche Markenzeichen ein Journalistending ist«.

Tatsächlich wiesen Soft Machine (benannt nach einem von William S. Burroughs’ Exzess-Romanen) und Caravan bereits auf ihren Debüt-Alben voller extravaganter Scherze in verschiedene Richtungen. Die Softs peilten einen von avantgardistischer Elektronik unterstützten »Big-Band«-Sound an, der in sachtem Tempo komplexe und ungewöhnliche Strukturen instrumental bearbeitet und variiert. Zele­briert wurde das auf den epochalen LPs »Third« und »4«. Caravan hingegen tendierten zu einem eher folkig inspirierten Wechselspiel zwischen Flöten und Hammond, das metrisch kaum weniger vertrackt war, aber eine eher Prog-typische Klangfärbung besaß. Ihr Meisterstück ist die LP In »The Land Of Grey And Pink«. Die beiden Bands markieren die Spannbreite des Canterbury-Sounds, der eben doch einige gemeinsame Merkmale zeigt: den Unernst der kurzen Texte und Titel, den weitgehenden Verzicht auf das Mellotron, die starke Betonung von Holz- und Blechblasinstrumenten, das synkopisierende Schlagzeugspiel im hellen Tonbereich und die typische extrem verzerrte Hammond (Mike Ratledge, David Sinclair). Deswegen wird auch das Tasten-Trio Egg um den Keyboarder Dave Stewart (eine schräge und witzige Alternative zu Emerson, Lake & Palmer) noch als Canterbury-Band angesehen, obwohl Stewart erst 1972 zum Ex-Flowers-Musikerpool stieß.

Zu dieser Zeit waren bereits viele neue Canterbury-Bands durch Mitglieder von Soft Machine und Caravan gegründet worden. Als besonders langlebig erwies sich das bereits erwähnte, von David Allen angeschobene Jazz-Rock-Projekt Gong. Robert Wyatt, ursprünglich Drummer von Soft Machine, dessen Vorlieben für die chinesische Kulturrevolution sich glücklicherweise nicht auf die Qualität seiner Kompositionen auswirkte, startete nach hervorragenden Alben zusammen mit Matching Mole eine bis zum heutigen Tage erfolgreiche Solo-Karriere, ähnlich wie der versponnene Musikpoet Kevin Ayers. Andere formten Bands wie Hatfield And The North, Gilga­mesh, Khan und National Health, die zwar an Soft Machine anknüpften, aber eine weichere Klangfarbe bevorzugten. Der Canterbury-Stil verbreitete sich über die Insel hinaus: In Deutschland gab es Tortilla Flat und Tomorrow’s Gift, in Italien Picchio Dal Pozzo, in Holland Supersister, in Dänemark Burning Red Ivanhoe und in den USA Happy The Man.

In den späten siebziger Jahren orientierte sich die Mehrheit der britischen Musiker dann an metrisch verzwickten Fusion-Sounds (wie Bruford), die Minderheit an Avantgarde-E-Musik mit radikaler Attitüde (wie Henry Cow mit dem jungen Fred Frith). Den Untergang des Progressive Rock hat der Canterbury-Style relativ unbeschadet überstanden. Seine Protagonisten behaupten sich als Jazz- bzw. Avantgarde-Musiker auf ihrem Terrain, das nun wieder hermetisch separiert bleibt von dem der populären Rockmusik: Hier recycelt die Musikindustrie sich selber, nachdem sie im Zuge der New Wave wieder das musikalische Kommando zurückgewonnen hat.

Seither ist jeder Hype der noch weicher gespülte Aufguss des vorhergehenden, hat die Rockmusik also nur noch das vor sich, was zwischen 1967 und 1977 wie ihre Vergangenheit aussah. Vielleicht lassen sich aber gerade deswegen wieder mehr Hörer von den Perlen dieses progressiven Jahrzehnts verführen: Der Weg in die Zukunft führt zurück – bis auf Weiteres.

Frank Zappa & The Mothers Of Invention: We’re Only In It For The Money, 1968;

–: Absolutely Free, 1967

Stackridge: Extravaganza, 1974

Wigwam: Fairyport, 1971

Odin: Odin, 1972

Nine Days Wonder: Nine Days Wonder, 1971

Gong: Radio Gnome Invisible Vol.1 – The Flying Teapot, 1973

–: Radio Gnome Invisible Vol.2 – Angel’s Egg, 1973

–: Radio Gnome Invisible Vol.3 – You, 1974

National Health: National Health, 1977

Herbie Hancock: Headhunters, 1973

Miles Davis: Bitches Brew, 1969

Return To Forever: Hymn Of The Seventh Galaxy, 1973

Weather Report: Mysterious Traveller, 1974

Mahavishnu Orchestra: Inner Mounting Flame, 1971

–: Birds Of Fire, 1973

Soft Machine: Volume One, 1968

–: Third, 1970

–: 4, 1971

Caravan: Caravan, 1968

–: In The Land Of Grey And Pink, 1971

Egg: The Polite Force, 1971

Robert Wyatt: Rock Bottom, 1974

Matching Mole: Matching Mole, 1971

Kevin Ayers: The Confessions Of Dr.Dream And Other Stories, 1974

Hatfield And The North: Hatfield And The North, 1973

Gilgamesh: Another Fine Tune You’ve Got Me Into, 1978

Khan: Space Shanty, 1972

Tortilla Flat: Für ¾ Stündchen, 1974

Tomorrow’s Gift: Goodbye Future, 1973

Picchio Dal Pozzo: Picchio Dal Pozzo, 1976

Supersister: Present From Nancy, 1970

Burning Red Ivanhoe: Burning Red Ivanhoe, 1970

Happy The Man: Happy The Man, 1977

Bruford: One Of A Kind, 1979

Henry Cow: Legend, 1973